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Morgens um halb acht. Der Bus ist überfüllt. Eine alte Dame steigt mit ihrer Tochter und ihrem Enkelkind als letzte ein. Die Ältere atmet hörbar auf, als drei Plätze für sie frei werden. Die junge Frau schließt sofort die Augen, während das etwa siebenjährige Mädchen neben ihr leise mit seiner Puppe spricht. Plötzlich springt es auf und fällt erst der Mutter und dann der Großmutter um den Hals. "Ich habe euch ganz toll lieb!"

Die Leute auf der anderen Seite des Ganges haben dieser Szene interessiert zugesehen. Das Kind bemerkt dies, steht unversehens noch einmal auf und umarmt auch die Fremden nacheinander, ein älteres Ehepaar und zwei junge Mädchen. "Euch hab ich auch lieb", versichert es ihnen und strahlt sie an, als sei es gerade guten Freunden um den Hals gefallen.

"Lara ist geistig behindert", erklärt ihre Mutter, "unter anderen Defiziten fehlt ihr Fremden gegenüber die natürliche Hemmung." Noch mehr Fahrgäste sind jetzt aufmerksam geworden; sie schauen ungläubig, man sieht dem Mädchen keine Behinderung
an. Lara ist ein hübsches Kind mit langem, blondem Haar und blauen Augen, aus denen ein Urvertrauen leuchtet, das sonst nur ganz kleine Kinder haben. Bei den Worten ihrer Mutter nickt sie ernst. "Mmh, ich bin behindert." In ihrem kurzen Satz liegt eine Würde, die anrührt.

"Wenn solch ein kleiner Mensch schon so viel Wärme ausstrahlt, dann möchte man fast wünschen, daß es noch mehr von ihnen gibt", meint die ältere Dame, die zu den Abgeküßten gehört. Laras Mutter sagt nichts dazu, sie senkt nur den Kopf, und ihre gefalteten Hände verkrampfen sich. Plötzlich beginnt ein junger Mann zu reden: "Leider scheinen Liebe und Wärme in unserer Gesellschaft Zeichen von Behinderung zu sein. Bist du hilfsbereit und großzügig, dann heißt es bei manchen Leuten gleich: ‚Der ist nicht ganz richtig im Kopf. Meine eigene Mutter hat oft zu mir gesagt: ‚Junge, sei clever. Gutmütigkeit ist Dummheit. " Überrascht schauen die Leute zu dem Mann hin, starren ihn neugierig an; der aber redet unbekümmert weiter: "Heute gilt es doch, die Ellenbogen zu gebrauchen. Und die diesem Trend nicht entsprechen, werden eiskalt abserviert."

Einige Fahrgäste nicken zustimmend, andere lächeln nachsichtig. Im hinteren Teil des Busses wird es laut. Einer der Schuljungen in der letzten Reihe ruft nach vorn: "Wenn wir auf ne Predigt scharf sind, gehen wir in die Kirche."

"Es würde euch gar nichts schaden, mal in eine Kirche zu gehen, Jungs", erwiderte der junge Mann freundlich.

Ein älterer sorgfältig gekleideter Herr macht eine verächtliche Handbewegung. "Wieder so ein Spinner!" Er beugt sich zu seiner Frau hin und flüstert hörbar: "Wie der schon aussieht - grüne Irokesenfrisur und Ring im Ohr!"

Verlegene Stille. Eine Frau hüstelt unwillig. Doch allmählich sinken die Leute wieder in ihre müde Gleichgültigkeit zurück. Ein paar Kinder plappern, andere kichern verhalten.

"Wäre Liebe eine Behinderung, stände es um uns alle schlecht." Die klare Stimme von Laras Großmutter fällt störend in die wieder eingetretene Normalität. Auch jetzt ist es der junge Mann, der antwortet: "Richtig, gnädige Frau, aber wo Liebe ist, haben Egoismus und Gefühlskälte keinen Platz."

Lara erfühlt wohl eher den Sinn dieser Worte, als daß sie ihn versteht. Sie lächelt den Mann mit der geschorenen Frisur an. "Dich hab ich auch lieb", und fast jeder im Bus versteht wohl, was sie damit meint.

Nur die Jungen hinten grölen los. Sie biegen sich vor Lachen. "Ich hab dich lieb", äfft der Lauteste die Kleine nach, "die spinnt doch ...", bis ihn ein Mitschüler zurechtweist: "Laß das jetzt, Marco!"

Neugierige Blicke ruhen auf der Kleinen. Wird sie reagieren? Mutter und Großmutter äußern sich nicht, sie sind wohl schon einiges gewöhnt, aber Lara spricht jetzt mit ihrer Puppe: "Die Jungs da hinten sind doof, nicht wahr, Lisa. Die haben wir gar nicht lieb!"

Der Bus hält. Die Leute strömen, von eingebildeter oder wirklicher Eile getrieben, aus den geöffneten Türen.

"He, warte mal!" Marco, der Junge aus dem Bus, rennt hinter Lara her und bleibt keuchend vor ihr stehen. Sein Gesicht ist beinah so rot wie der Ferrari auf seinem T-Shirt. Er öffnet die Faust. In seinem Handteller liegt ein rosa Puppenschuh. "Den hat deine Lisa verloren." - "Gott sei Dank", freut sich Laras Großmutter, "das hätte vielleicht einen Zirkus gegeben, wenn der Schuh ..."

"Oh", fällt ihr das Mädchen ins Wort, "da bin ich aber ganz toll froh!" Und ehe sich der Junge versieht, kriegt er einen Kuß auf die Wange gedrückt. Und wieder der Satz: "Ich hab dich lieb."

Mutter und Großmutter sind langsam weitergegangen. Lara läuft jetzt hinter ihnen her, dreht sich aber noch mehrmals um und schwenkt grüßend ihre Puppe. Auch der Junge winkt, bis die drei nicht mehr zu sehen sind.

Gerhard Wydra: Heimwehtouristen am Drewenzsee; im Hintergund die Stadt Osterode (Aquarell, 2002)

 

Heimkehr
von Ernst-August Marburg

Komm, alter Wanderstab,
du wegegewohnter,
den mir mein Vater gab
wie eine Fahne.

Führ mich am See entlang,
dem wälderumkränzten,
wohl über Steg und Hang
bis nach Pillauken.

Wartet ein Schiffchen dort,
es wartet schon lange,
gleitet dann mit uns fort,
fährt uns nach Hause.

Fernher vom Uferrand
da grüßen zwei Türme.
Hoch über Bucht und Strand,
oft schon im Traum erkannt:

Mein Osterode!
 
     
     
 
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