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Der Herr Baron Mueller

 
     
 
Der Szilasko wohnte uns gegenüber, auf der anderen Seite der Straße. Ich muß gerade so groß gewesen sein, daß ich mit der Nase über den Tisch reichte, als er mich eines guten Tages in seine Küche winkte und mir etwas zeigte, was ich bislang noch nicht gesehen hatte. Er tat dabei sehr geheimnisvoll und führte mich zu einer kleinen Kiste, die auf der Bank unter seinem Küchenfenster stand. Und weil ich bis heute noch nicht vergessen habe, was er mir zeigte, kommt er mir noch dann und wann in den Sinn.

Zwei weiße Mäuse waren es, die der Szilasko mir da zeigte. Er hatte sie in einem Holzkistchen einquartiert, in dessen Ecke er ihnen aus Holzwolle ein Bett gerichtet hatte. Auf die Kiste hatte er eine Glasscheibe gelegt. "Da können sie nicht ausreißen und wir können sie sehen", sagte er dazu. Ich bin sicher, daß er mir auch ein Geschichtchen über das Woher der Tiere mit den roten Augen erzählte. Er konnte das gut, und die Menschen hörten ihm gerne zu. Es tut mir aber leid, daß ich sie vergessen habe. Ich höre jedoch immer noch die ruhig klingende Stimme des Mannes und seine weit ausgezogene Ausdrucksweise, und ich erinnere mich noch sehr gut daran, daß ich mit dem Finger den Mäusen über das weiße Fell streichen durfte. Es war ein weiches Gewand, das die Tiere trugen. Irgendwie paßte es zu der weichen Ausdrucksweise des Mannes.

"Willst Kumst?" hatte mich der Szilasko einmal gefragt, als ich ihm um die Mittagszeit auf der Straße begegnete. Ich hörte ihn des öfteren vom Kohl reden. Er mochte ihn offenbar sehr gern. Kumst mit Schweinefleisch, unsere Leute redeten oft darüber. Ich mochte dieses Essen nicht. Erst später, als wir keinen Kumst und kein Schweinefleisch mehr hatten, dachte ich oft daran, und das Wasser lief mir dabei im Mund zusammen. Ich dachte dann auch an den Schweinezagel, den die Mutter in der Suppe mitgekocht hatte. Wie gesagt, der Szilasko hatte mich gefragt, ob ich Kumst wollte.

Ich erinnere mich auch noch daran, daß der Szilasko mir einen Vortrag über Oberwärts hielt. "Geh nicht dahin, bleib hier", meinte er einmal, "da stehen ein Haus und eine Fabrik neben der anderen, da ist die Luft schlecht und es stinkt." Von meiner Mutter hatte ich einmal gehört, daß der Szilasko eines Tages mit seiner Frau und seinem Kind nach Oberwärts gezogen war. Essen, Gelsenkirchen oder Dortmund soll es gewesen sein. Er soll es da aber nicht lange ausgehalten haben. Eines Tages, es soll mitten im tiefsten Winter gewesen sein, stand er vor unser Haustür und fragte den Vater, ob er in das Haus auf der anderen Seite der Straße einziehen dürfte, da war gerade eine Wohnung frei. Nun, der Vater mochte den Szilasko gern. Er war mit ihm zusammen in die Schule gegangen, und er nannte ihn daher beim Vornamen. Vater hatte nichts dagegen, daß der Szilasko in die leerstehende Wohnung einzog. Er gab ihm Brennholz und eine ganze Fuhre Torf und machte ihn zum Gespannführer. Zwei Grauschimmel und zwei Füchse hatte der Mann zu versorgen, und am Sonntag, wenn wir durch das Land fuhren, saß der Szilasko auf dem Kutschersitz des großen Wagens und knallte mit der Peitsche.

Als ich dann größer wurde, erzählte man den Leuten, daß sie alle deutsche Namen haben müßten. Die einen hörten darauf, die anderen kümmerten sich nicht darum, und mein Vater schimpfte darüber sogar recht ausgiebig. "Dem Niedzwetzki", sagte er, "haben sie in Frankreich ein Bein abgeschossen, und ich bin freiwillig in den Krieg gezogen, weshalb sollen wir da wohl unsere Namen ändern!?" Er betonte dabei auch, daß bei der Abstimmung fast 30000 Stimmen in unserem Heimatkreis für Deutschland waren und nur zwei für Polen. Nun, der Vater hatte schon recht, er konnte es aber nicht ändern, daß man aus unserem Czarna-See einen Schwarzen See machte. Manchmal nannte mich der Vater Euzazek, und ich war stolz darauf, daß ich in polnisch bis fünf zählen konnte. Wie man Euzazek schreibt, weiß ich bis heute noch nicht. Es soll aber so viel wie Söhnchen heißen. Das Zählen hatte mir das Mariechen beigebracht, die aus Suwalki zu uns gekommen war und bei der Kartoffelernte half.

So kam es dann auch, daß der Szilasko daran dachte, sich einen neuen Namen anzuschaffen. Ob ihm selbst der Gedanke gekommen war, oder ob sich ein Außenseiter mit ihm diesbezüglich in Verbindung gesetzt hatte, steht nicht fest und man sprach auch nicht darüber. Er überlegte hin und er überlegte her, und er sprach mit meiner Mutter darüber, von der ich später diese ganze Geschichte gehört habe. Jemand hatte ihm gesagt, daß man seinen Namen ins Deutsche übersetzen könnte, daß man dabei den deutschen Namen eines Vorfahren, den Mädchennamen seiner Frau oder sogar einen Doppelnamen wählen durfte. Im Dorf selbst stand der Lehrer den Leuten in derartigen Angelegenheiten mit Rat und Tat zur Seite, und er erledigte dabei auch die Papierarbeiten, die mit einem "Umtaufen" verbunden waren.

Also setzte sich der Szilasko mit unserem Schulmeister in Sachen "Nachnamen" in Verbindung und er besprach die Angelegenheit mit ihm. Weil seine Frau eine geborene Mueller war, sollte dieser Name zu einem Teil des neuen Namens werden, und weil man ihm gesagt hatte, daß Doppelnamen durchaus annehmbar wären, wählte er einen solchen. Er schlug dem Lehrer vor, das dieser beantragen sollte, aus dem Szilasko einen Baron Mueller zu machen. Dieser Name war durchaus gerechtfertigt, denn die Mutter unseres Freundes war eine geborene Baron.

Was der Lehrer auf diesen Vorschlag hin sagte, weiß ich nicht. Ich weiß auch nicht, ob er jemals mit jemandem darüber gesprochen hat oder den Antrag überhaupt ausgefüllt hat. Der Szilasko erzählte den Nachbarn, daß er demnächst Baron Mueller heißen würde und er soll, wie man sagte, dabei ein wenig gelächelt haben. Er blieb aber weiterhin der Szilasko, so wie man unseren See weiterhin Czarna-See und nicht Schwarzen See nannte, und er war auch weiterhin ein guter Freund seiner vier Pferde
, der beiden Grauschimmel und der beiden Füchse. Wenn er Baron Mueller geworden wäre, hätte er sich vielleicht ein Monokel gekauft und die Menschen wären ihm aus dem Weg gegangen. Ob er das wollte, weiß ich wirklich nicht. Ich glaube es aber nicht. Er mochte die Menschen, die um ihn waren, und die Menschen mochten ihn, einer um den anderen. Schöne Geschichten konnte er erzählen, von weißen Mäusen und von Oberwärts.

Der Szilasko und ich zogen um die gleiche Zeit in den Krieg. Es ist schon lange her, und der Wind hat das Erleben um die Ecke gefegt. Ich habe den Mann nie wieder gesehen. Nur einmal hörte ich seine Stimme. "Willst Kumst?" fragte er, und ich dachte an den Schweinezagel, den die Mutter in der Suppe gekocht hatte. Ich saß neben Szilasko auf dem Kutscherbock und wir fuhren über das weite Land.

Am 16. Juli 1938 wurde Stallupönen in Ebenrode umbenannt, fast alle Ostdeutschland stimmten zwar für den Verbleib im Deutschen Reich, sahen aber die Umbennung ihrer Gemeinden mit gemischten Gefühlen.
 
     
     
 
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