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Ich bin erschüttert! Es sind jetzt fast fünfzig Jahre seit dem Zweiten Weltkrieg vergangen, und hier sieht es aus, als wäre der Krieg erst wenige Jahre vorbei. Daß du das so leichtnehmen kannst, verstehe ich nicht.“
Stefanie sah Margarete fragend an.
„Du hast nicht gesehen, wie es hier wirklich zum Kriegsende ausgesehen hat.“
„Vielleicht. Aber ich kenne Fotos. Alte Fotos aus dem zerbombten Königsberg und auch Fotos von meiner Heimatstadt Hann over. Und heute muß ich Spuren des Krieges dort mühsam suchen. Hier springen sie mir aber fast von allein in die Augen.“
„Das Leben ging hier aber nicht über Jahrzehnte seinen normalen Gang. Daß wir hier stehen, durch Königsberg gehen können, ist ja überhaupt erst seit kurzem wieder möglich. Wenige Wochen nach der Öffnung im Jahr 1991 stand ich schon einmal hier. Ich hatte erwartet, daß es mich zerreißen würde, daß ich zusammenbrechen müßte, wenn ich die Straßen entlang ginge, in denen ich als Kind, als Jugendliche gegangen bin. Und dann war es doch anders und ich war eher erleichtert.“
„Ja und das verstehe ich nicht. Ich habe dich als sensiblen Menschen kennengelernt und dann nimmst du das so leicht?“
Margarete legte den Kopf in den Nacken und schaute in den blauen Himmel, über den dicke, weiße Wolkenpakete zogen. Es war ein warmer Tag, aber windig.
„Ich habe auch damals in den Himmel geschaut. Das tue ich oft – überall auf der Welt. Ich habe es schon als Kind gern getan. Der Himmel hat so viele Farben und die Wolken gibt es in den unterschiedlichsten Formen. Das meine ich übrigens nicht im meteorologischen Sinne. Für mich ist der Himmel immer ein Gesamtkunstwerk. Nirgendwo habe ich bisher einen so weiten Himmel gesehen wie in Amerika. Der Horizont scheint dort fast nicht mehr zur realen Welt zu gehören. Und nirgendwo war mir der Himmel bisher so nah, wie in den Alpen. In Italien, an der Riviera habe ich immer das Gefühl, das der Himmel immer nur die Kulisse ist für die wunderschöne Landschaft. Aber hier in Ostdeutschland, in Königsberg ist der Himmel wie eine Kuppel, der all das umspannt, was ich geliebt habe, und noch heute liebe. Er ist weit und nah zugleich. Mir geht das Herz auf, wenn ich ihn nur eine Weile anschaue, ganz gleich ob es ein freundlicher Himmel ist, wie jetzt gerade oder ob er dunkel und drohend auf das nahende Gewitter verweist.“
Margarete schwieg und schaute ergeben den Wolken nach. Stefanie hatte ebenfalls den Kopf in den Nacken gelegt und versuchte, die Empfindungen der Erzählenden nachzuvollziehen.
„Und siehst du, als ich vor zwei Jahren hier durch Königsberg ging und in den Himmel schaute, da stellte ich fest – es ist noch der gleiche Himmel wie in der Zeit, als ich meine Kindheit hier verbrachte. Nichts hatte ihn zerstören können. Und wenn auch die Stadt nicht mehr die selbe ist und nur weniges an damals erinnert, wenn auch andere Menschen hier leben, streben, lieben und sterben – der Himmel über Königsberg ist doch der gleiche geblieben. Das hat mich glükklich gemacht, das hat mir in einem Augenblick alle Ängste und Sorgen vertrieben. In diesem Moment war ich einverstanden mit meinem Leben, mit meiner Entwicklung mit meinen noch offenen Wünschen und Zielen. Und damit war ich auch plötzlich frei zu erkennen, was ich eigentlich suchte.“
Margarete hatte ihren Blick wieder vom Himmel abgezogen und sah Stefanie liebevoll an, die immer noch still hinaufschaute und dann langsam in der Stille der Gesprächspause ihren Blick von den Wolken abzog und sich Margarete zuwandte.
„Ich glaube, daß kann ich jetzt ein bißchen verstehen. Aber warum macht es mich nur plötzlich so traurig?“
„Vielleicht weil du deinen Himmel noch nicht gefunden hast?“
Stefanie zuckte die Schultern.
„Laß uns gehen. Es gibt trotz allem noch viel zu sehen.“ Margarete faßte sanft ihren Arm und zog sie mit sich.
"Dieser Himmel umspannt all das, was ich liebe"
"Warum macht es mich plötzlich so traurig?"
Danach: Der Münchenhof in Königsberg nach dem Luftangriff vom 30. August 1944 |
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