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Endlich Feierabend! Auf dem Weg zum Bahnhof beginnt es zu regnen. Als ich meinen großen grünen Stockschirm aufspannen will, hakelt er etwas und schon fällt mir eine Speiche aus dem Gestell vor die Füße. Oh, je das wars wohl, befürchte ich. Eine Reparatur steht außer Frage; mit Sicherheit ist ein neuer Schirm billiger. Erst jetzt fällt mir auf, wie stark Wind und Wetter dem Schirm zugesetzt haben: Kühlen Niesel-Regen hat mein Schirm ebenso zuverlässig von mir ferngehalten wie heftige Schauer, Gewitterböen und eisigen Schnee-Regen. Und dieser Einsatz hat seine Spuren hinterlassen: Mein einst so hübscher Stockschirm auf dem matt glänzenden Holzgriff und dem leuchtend grünen Baumwollstoff sieht im wahrsten Sinne des Wortes "abgerissen" aus. Zwei Speichen-Spitzen haben sich aus der Bespannung gelöst, die einst kräftige Farbe ist unmerklich in einen dezent verwaschenen Pastellton übergegangen. Mit diesem Schirm kann ich unmöglich noch länger herumlauf en, sagte ich mir.
In der trockenen Bahnhofshalle angekommen, beschließe ich kurzerhand, mich von diesem unansehnlichen Schirm zu trennen. Hier und jetzt weg damit! Aber wie? Mich packen Skrupel. Meinen langjährigen Begleiter einfach so mir nichts, dir nichts in einen der Abfallkörbe stecken? Nein, dazu ist er doch zu sperrig. Und ehrlich gesagt, so einen schnöden Abschied möchte ich ihm und mir nicht zumuten. Vielleicht sollte ich noch ein gutes Werk tun und ihn unbemerkt einfach stehen lassen. So kann sich wenigstens noch jemand bedienen, der plötzlich im Regen steht
Bedenken kommen auf: Wahrscheinlich würde irgend jemand den Schirm sofort entdecken, ihn mir wohlmöglich noch hinterhertragen, voller Stolz, mich vor den Folgen meiner vermeintlichen Vergeßlichkeit bewahrt zu haben. Und dann müßte ich ihn wieder zurücknehmen, oder?
Im Bahnhofs-Kiosk entdecke ich die Lösung meines Problems: Direkt am Eingang steht ein großer Schirmständer! Ich werde meinen Schirm dort abstellen, ein wenig in den Zeitungen blättern und ihn beim Hinausgehen einfach "vergessen". Gesagt, getan. Am nächsten Morgen, auf dem Weg ins Büro, werfe ich im Vorbeigehen einen neugierigen Blick auf den Schirmständer und stelle erstaunt fest: niemand hat meinen Schirm fortgenommen! Und auch an den folgenden Tagen sehe ich meinen Schirm treu und brav an seinem Platz stehen.
Wochen vergehen, die Sache mit dem Schirm ist längst vergessen, da passiert es. Bei Sonne bin ich aus dem Haus gegangen, doch kaum steige ich am Ziel aus der S-Bahn, überrascht mich strömender Regen. Abwartend stelle ich mich unter das schützende Bahnhofsvordach, sehe sehnsüchtig den anderen Reisenden zu, die ihre Schirme auspacken, aufspannen und zu ihren Arbeitsplätzen eilen. Ungeduldig schimpfe ich vor mich hin. Ein Königreich für einen Schirm! Ich will endlich weitergehen, zu meinem warmen, trockenen Arbeitsplatz
Da fällt mir mein grüner Schirm wieder ein. Ob er wohl noch immer im Schirmständer des Bahnhofskiosks steht? Ich gehe hin, schaue nach und kann es kaum glauben: Mein schöner grüner Schirm steht tatsächlich noch da. So als ob er nur auf mich gewartet hätte! Gerührt nehem ich ihn wieder an mich, spanne ihn auf und erreiche unter seinem Schutz trockenen Fußes mein Ziel.
Wo der Schirm nun ist, fragen Sie? Seit diesem Tag hat er nun einen festen Platz in meinem Büroschrank eine Reserve, auf die ich mich verlassen kann! Christiane Wöllner
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