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Sie mußte über Nacht ins Dorf gekommen sein; denn als die Martha Wallat in der Frühe zur Tür hinaustrat, fand sie sie zusammengekauert vor dem Haus sitzen. Ihre Gestalt war von einem langen schwarzen Mantel umhüllt. Das in der Mitte gescheitelte Haar war fast ganz von einem hinten gebundenen rot-weißen Tuch verdeckt. Ein kopfkissengroßes Bündel barg ihre Habseligkeit.
Als sie die Martha sah, sprang sie auf. "Madame, hätten Sie vielleicht Arbeit für mich?" fragte sie höflich. Ihre Stimme klang fest und klar, ohne jeden Deut von Demut oder Wehklage. Martha musterte die Frau eingehend. Die dunklen, fast mandelförmigen Augen über den ausgeprägten Wangenknochen blickten warm. Das gefiel ihr. Und die kräftige Gestalt ließ darauf schließen, daß sie zupacken konnte. "Ja - Sie können bleiben!" sagte die Martha. Obwohl ihr auch noch einiges andere durch den Kopf ging.
Die Fremde beugte sich herab und küßte Martha dankbar die Hand. "Wie ist Ihr Name?" fragte Martha jetzt. "Bursinka", antwortete die Frau. Sie blickten sich beide eine Weile wortlos an. Dann sagte Martha: "Kommen Sie, ich zeige Ihnen Ihre Kammer!"
Der Name gab noch mehr Rätsel auf, als ohnehin schon ausstanden. Er klang russisch oder polnisch, aber die Frau sprach perfekt deutsch. "Woher kommen Sie, Bursinka?" forschte Martha, während sie die Stiege hinaufgingen. "Von weit, gnäd ge Frau. Von sehr weit!" Das war alles, was die Fremde darauf antwortete. Martha war klar, daß sie nichts von sich offenbaren wollte, und drang deshalb auch nicht weiter in sie. Es hatte sich vom ersten Augenblick an Sympathie zwischen ihnen gezeigt, das sollte ihr genügen.
Als Marthas Mann etwas später von der Pirsch heimkam, erklärte sie ihm mit knappen Worten, daß Bursinka gern bei ihnen in Dienst treten wolle und sie, Martha, sehr dafür sei.
Der Karl musterte die Bursinka eingehend. Und Martha bemerkte genau, daß sein Blick um einiges länger als nötig an dieser Frau hing. Doch das hatte sie schon einkalkuliert, bevor sie Bursinka zu bleiben gestattete.
Die Burre, wie Bursinka auf dem Hof bald genannt wurde, war von eigenartiger, herber Schönheit. Und daß diese Schönheit nicht nur auf Marthas Mann einige Wirkung hatte, sondern auch einige Männer im Dorf auf abwegige Gedanken brachte, war kaum verwunderlich. Weniger selbstverständlich war dagegen Burres Verhalten. Als sie etwa sechs Wochen bei den Wallats war, während der sich ihr Fleiß als untadelig erwiesen hatte und ihre Anhänglichkeit an die Martha immer größer geworden war, spielte sich folgendes ab.
Martha wurde zufällig Zeuge, wie ihr Mann die Burre eines Morgens unter dem Kirschbaum hinter der Scheune zu umarmen versuchte, als diese zum Melken auf die Weide hinaus wollte. Und da Martha genug Mut aufbrachte, abzuwarten und an ihrem Standort auszuharren, bekam sie dann auch mit, wie die Burre reagierte. Ganz energisch wehrte sie sich gegen diese Zudringlichkeit, und sie sagte völlig respektlos: "Laß mich in Ruhe - du hast eine Frau!" Nur den Haß konnte Martha nicht erkennen, der in jenem Moment in Burres Augen funkelte. Diese Eiseskälte! Sie ließ den Karl schnell zur Besinnung kommen. Eine solche Kälte hatte er noch nie ihn den Augen einer Frau gesehen. Martha aber wußte seit diesem Tag, wie groß Burres Zuneigung zu ihr war. Sie hatte auch geahnt, daß es einmal zu solch einem Zwischenfall kommen würde, denn sie kränkelte seit dem letzten Kind. Und so zwang sie sich, dem Karl nicht böse zu sein, obwohl es ihr schwerfiel.
Der Burre aber schenkte sie am Abend dieses Tages einen sehr schönen Stoff zu einem hübschen Kleid. Die Frau fiel ihr vor Dankbarkeit zu Füßen und weinte vor Freude. Martha indes ging kommentarlos aus Burres Stube. Da glaubte Burre die Zusammenhänge zu erkennen. Sie ahnte, daß die Bäuerin vom Geschehen am Morgen wußte, und schwor sich, diese Frau nie zu hintergehen.
Ähnliche Vorfälle wie an diesem Morgen gab es manchmal auch auf dem Feld mit anderen Männern und auch im Wald, wenn die Burre beim Beerensammeln oder Pilzesuchen war. Sie beklagte sich auch meistens bei der Martha darüber. Die empfahl ihr, wenn sie allein irgendwo hinging, die Hündin Asta mitzunehmen. Und das machte Burre sich auch zunutze. Wogegen sie sich indes nicht wehren konnte, war die Mißachtung der Frauen im Dorf, denen die Reaktion ihrer Männer auf diese Frau nicht verborgen blieb. Geradezu verzweifelt aber war sie über die Art, wie der alte Petkus über sie urteilte. Er behauptete in seiner verkorksten Art, die Burre sei eine Hexe, die die Männer, sobald sie einmal in ihre Augen geschaut hätten, nicht wieder zu sich selbst finden ließ.
Das war ein Punkt, der für die Burre unüberwindbar schien. Wenn sie dem Petkus im Dorf begegnete, spuckte sie vor ihm aus, so sehr übermannte sie die Wut auf diesen Menschen. Und hätte nicht ihr eigener Bauer sie immer wieder zu beschwichtigen versucht, wäre noch Schlimmeres geschehen.
Dabei konnte die Burre sehr sanft und liebevoll sein. Das zeigte sich besonders, wenn Kinder in ihrer Nähe weilten. Den kleinen Alfi nahm sie, sooft sie nur konnte, auf den Schoß. Und wenn der Kleine sie anlächelte, verloren sich ihre Blicke völlig in den Augen des Kindes. Martha fragte sich manchmal, wenn sie solche Regungen beobachtete, ob die Burre ebenfalls Mutter war oder ob ihr entgangene Mutterschaft zum Schicksal wurde. Bursinka selbst sprach nach wie vor kein Wort über sich. Nicht einmal darüber, wie lange sie zu bleiben gedachte, äußerte sie sich.
Martha befürchtete sogar, daß dieser Tag überraschend kommen könnte. Und das wäre ihr nicht gleichgültig gewesen. Vielleicht gründete sich diese Sorge auf eine unbewußte Vorahnung; denn es sollte sich bald zeigen, daß Burres Anwesenheit den Wallats noch sehr zum Segen werden sollte.
Martha wurde schwächer und schwächer. Immer mehr Arbeit im Haus und mit den Kindern übertrug sie der Burre, da sie die zuverlässigste unter den Mägden war. Dann kam der Tag, an dem die Martha gar nichts mehr tun konnte. Da wurde Burre ihr zur Pflegerin. In wahrer Aufopferung versah sie diesen Dienst.
"Dich hat uns der Himmel geschickt!" sagte die Martha manchmal. Und auch der Karl beteuerte Burre immer wieder seine Dankbarkeit. Als Martha zu Grabe getragen wurde, ging die Burre mit den drei Söhnen der Verstorbenen hinter dem Sarg her. Den Kleinsten, knapp dreijährig, trug sie zeitweilig auf dem Arm. Doch trotz all ihrer
Opferbereitschaft und Anteilnahme registrierte sie auch an diesem Tag viele auf sie gerichtete böse Blicke unter denen, die mit ihr an Marthas Grab standen. Darüber war sie sehr betrübt. So sehr, daß sie sich, nachdem die letzten Trauergäste das Haus verlassen hatten, bei dem Bauern darüber beklagte. Es war das erste Mal, daß sie sich mit einer eigenen Angelegenheit an ihn wandte. Aber es schien ihr unerträglich, das zu verkraften, ohne sich darüber mit jemandem ausgesprochen zu haben. Und mit wem hätte sie sonst dar-über sprechen sollen? Ihren einzigen Halt, die Bäuerin, gab es nicht mehr.
Der Karl fand die Antwort, die er ihr auf ihre Klage hin geben wollte, nicht zum richtigen Zeitpunkt ausgesprochen, doch im Hinblick auf die große Betrübnis dieser sonst so tapferen Frau sah er es als das ein-zig Richtige an. Also sagte er: "Werde meine Frau, Burre, dann wird das alles aufhören! Und ... eine bessere Mutter für meine Kinder kann ich mir gar nicht wünschen."
Die Burre sah ihn daraufhin lange an. Sie wußte auch, daß der Bauer es grundehrlich meinte und aus Überzeugung sprach. Dafür war sie von Herzen dankbar. Man merkte, es ging viel in ihr vor. Aber sie brachte nichts davon über die Lippen. Nach einer Weile sagte sie dann: "Das kann ich nicht! - Selbst wenn ich wollte, ich kann es nicht!" Dann ging sie aus dem Zimmer.
Am nächsten Morgen hieß es unter den Leuten auf dem Hof, die Burre sei fort. Überall suchte man nach ihr. Nirgends war sie zu finden. Die einzige Spur, die sie hinterlassen hatte, war ein dickgewundener Maßliebchenkranz auf Marthas Grab. Jedenfalls bestand für alle, die die Burre kannten, kein Zweifel daran, daß dieser Kranz von ihr war.
Unklar blieb indes die Frage, ob auch der Brand ihr Werk war, der in jener Nacht das Anwesen des alten Petkus vernichtete und den gebrechlichen alten Mann in Lebensgefahr gebracht hatte. Wer die Burre kannte, sagte sich, daß sie für das Feuer durchaus in Frage kommen konnte.
Foto: Dorfstraße in Ostdeutschland: So wie diese von Gerhard Wydra in einem Aquarell festgehaltene Dorfstraße in Gruhsen, Kreis Johannisburg, gab es viele Straßen in dem weiten Land. Eine von ihnen wird auch die rätselhafte Fremde genommen haben, um in das Dorf zu kommen.
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