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In den letzten Jahren war die Armut im Land immer größer geworden; die Königin hatte schon alles Gold für die Ernährung der Menschen gegeben. In diesem Jahr hatte sie sogar ihre Krone, das Zepter und den Reichsapfel in Silber umgetauscht aber der Erlös reichte nur kurze Zeit. Sie hatte Wissenschaftler und Botaniker in die Welt gesandt, auf daß sie neue Pflanzen für die Ernährung fänden; aber keiner war zurückgekehrt.
In dieser Zeit lag, nicht weit vom Königshaus entfernt, eine Mutter auf dem Sterbebett und sagte zu ihrem Sohn: "Enar, gehe zu deiner Königin und biete ihr deine Dienste an ich sehe, du kannst ihr helfen."
Nachdem Enar seine geliebte Mutter begraben hatte, machte er sich voller Trauer auf den Weg zur Königin. Wie soll ich armer Tropf der Königin nur helfen?, dachte er. Die Königin aber spürte die reine Seele des jungen Mannes. Sie übergab ihm eine Schatulle, in der die silbernen Kronjuwel en lagen das letzte Wertstück ihres Hauses und bat ihn, diese Schatulle zur Mutter Erde zu bringen. Er möge die geliebte Mutter Erde bitten, ihnen zuhelfen.
Lange zog Enar durchs Land. Aber wo er auch fragte, niemand konnte ihm sagen, wo die Mutter Erde wohnte.
Eines Abends fiel er auf die Knie und bat Gott, ihm den Weg zu weisen. Da hörte er die Stimme seiner Mutter: "Geh weiter, mein Sohn, du kommst bald zu einem Berg. In einer Höhle in großer Höhe wohnt Mutter Erde. Der Weg ist sehr beschwerlich, aber du kannst es schaffen."
So gestärkt und geleitet fand Enar schließlich den Berg, aber der Fels ragte senkrecht in die Höhe. Verzweifelt ließ er sich auf die Erde fallen und fiel in einen tiefen Schlaf der Erschöpfung. Als er erwachte, stand der Vollmond am Himmel, und die Felswand zeigte deutlich Stufen, die nach oben führten. Er stieg nach oben bis zu einem Plateau und sah einen Spalt im Felsen, durch den er ins Innere einer großen Höhle gelangte.
Da erklang eine gewaltige Stimme, die ihn erschauern ließ: "Wer wagt es, meinen Frieden zu stören?" Enar sah die Gestalt einer riesigen Frau, nahm allen Mut zusammen und sprach: "Geliebte Mutter Erde, ich komme von der Königin Arleen des Landes Marat und bringe dir die Kronjuwelen. Die Königin bittet dich ehrfürchtig um Hilfe sie weiß keinen anderen Weg mehr, um ihrem Volk zu helfen."
Mutter Erde schaute ihn an und erkannte seine selbstlose Seele. Sie sah auch das Land und die Königin, sah ihren Kampf gegen die Not ihres Volkes und sprach: "Nimm diese Samen, es ist Reis, der im Wasser gedeiht. Ihr werdet nicht mehr Hunger leiden. Und nimm diese Knollen und setze sie in den Schlamm, sie werden eure Augen erfreuen."
Enar dankte der Mutter Erde. Sie nahm ihn auf ihre Hand und setzte ihn unterhalb der steilen Felswand wieder ab, denn inzwischen war die Sonne aufgegangen und die Stufen in der Felswand waren nicht mehr zu erkennen.
Enar eilte nun auf dem kürzesten Wege der Heimat zu.
In diesen Tagen aber wartete nicht nur die Königin, nein auch die jüngste Prinzessin Elisa auf Enars Rückkehr. Sie hatte, hinter einem Vorhang verborgen, beobachtet, wie die Königin Enar zur Mutter Erde sandte. Der junge Mann hatte einen so tiefen Eindruck in ihrem Herzen hinterlassen, daß sie ihn nicht vergessen konnte. Sie schickte ihre Diener aus, damit sie rechtzeitig wußte, wann er zurückkehrte, und als sie die Kunde erhielt, richtete sie es so ein, daß ihre Mutter für einige Stunden nicht im Schloß war.
Enar betrat den Schloßhof, und die Diener geleiteten ihn in den Saal, wo er von Prinzessin Elisa empfangen wurde. Sie bat ihn, sich auszuruhen, ließ Speise und Trank servieren und bediente ihn selbst mit allem. Enar war verwirrt, von einer so zauberhaften jungen Frau bedient zu werden und als er ihrem Blick begegnete, schlug sein Herz wilde Purzelbäume.
Als die Königin zurückkam, sah sie sogleich, daß diese beiden jungen Menschen zueinander gehörten. Sie ließ sich nun von Enar berichten und sagte ihm, daß seit dem Vollmond am Tage kein Regen mehr gefallen war nur noch in der Nacht und gerade so viel wie für ein ausgeglichenes Klima notwendig sei. Dann hörte sie sich an, wie der Reis zu vermehren sei und begrüßte die Lotusknollen. Gleich mußten die Gärtner kommen, damit alles schnell vermehrt und die Samen verteilt werden konnten; und am nächsten Morgen wurde für Mutter Erde ein großer Dankgottesdienst abgehalten.
Die Gärtner der Königin vermehrten Reis und Lotus mit großem Eifer, und Enar wurde ausgesandt, um den Leuten in den Dörfern von den neuen Samen zu erzählen und sie im Anbau zu unterweisen. Er bat dann jede Dorfgemeinschaft, einen Mann ihres Vertrauens am Jahrestag an den Hof zu senden, damit er ihren Anteil des Saatgutes in Empfang nehmen könne.
Schnell war das Jahr vergangen. Das Land hatte sich schon jetzt in eine blühende Oase verwandelt. Von überall strömten die Abgesandten an den Hof. Auch die Könige der umliegenden Länder waren mit ihren Familien angereist. Eine wunderbare Freude hatte alle Menschen erfaßt, und die Königin beschenkte alle, die gekommen waren, mit den Reissamen. Dann dankte die Königin gemeinsam mit allen Anwesenden der Mutter Erde für die gütige Errettung aus der Not. Da aber geschah ein weiteres Wunder wie von Zauberhand wurde die Königin mit den Kronjuwelen geschmückt, die nun aus purem Gold mit edlen Steinen gefertigt waren.
Da sanken die Gäste auf die Knie, und sie dankten nicht nur Mutter Erde, sondern auch ihrer Königin, die in der Not alles für sie geopfert hatte, nun aber schöner und kostbarer gewandet und geschmückt als je zuvor auf dem Thron saß.
Am Abend, als der volle Mond am Horizont erschien, versammelten sich alle um die Teiche des Schloßparks, um der Geburt der Lotusblüten beizuwohnen. Blüte nach Blüte öffnete ihren schimmernden Kelch und badete im Mondlicht. Die Menschen waren von so viel Schönheit zutiefst ergriffen, und so manche Träne schimmerte in den Augen der Gäste.
Am nächsten Morgen waren schon viele Gäste im Park, um die Lotusblüten im Sonnenschein zu erleben und so gerieten sie in die Vorbereitungen für ein weiteres großes Ereignis. An diesem Tage nämlich wurden Enar und Prinzessin Elisa, deren Liebe sich in diesem Jahr noch vertieft hatte, miteinander vermählt.
Die Königin war Enar sehr dankbar, denn sein edler Mut und sein Vertrauen in die göttliche Führung hatten das Land vor dem Untergang bewahrt. Bei seinen Reisen durch das Land hatte er großes Ansehen erworben, und so übergab die Königin bei der Vermählung auch die Regentschaft über das Land an Enar und Elisa.
Es war ein unbeschreiblich schönes Fest, und die Gäste konnten in ihren Dörfern nicht genug davon erzählen. Die Königin aber begab sich auf ihren Ruhesitz und widmete sich fortan nur noch der Zucht der Lotosblüten. Es dauerte nicht mehr lange, und man nannte sie überall die Lotuskönigin.
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