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Die Spitze des Mondes

 
     
 
Es war einer dieser typischen Wintertage. Der Himmel war von einer Farbe, wie sie nur diese Jahreszeit hervorbringen kann: blaßblau, mit einem silbrigen Schimmer. Jannick saß am Fenster. Seine Augen waren nach oben gerichtet, und angestrengt blickte er in dieses blaßblaue Etwas. Fast wollte er sich den Hals verrenken, so als hätte er etwas ganz Besonderes entdeckt. Und wahrhaftig: so etwas erlebte man nicht alle Tage, vor allem dann nicht, wenn man noch nicht mal zur Schule ging. Da, auf der einen Seite schien die Sonne, wenn auch eben winterschwach, und auf der anderen Seite des Himmels war der Mond zu sehen! Wie das? Wenn der eine wach ist, muß der andere schlafen, hatte die Mama gesagt. Und nun sah er beide. Jannick kniff die Augen zusammen, riß sie wieder auf, kniff sie nochmals zusammen, ganz fest diesmal, und riß sie weit auf. Doch kein Zweifel: Sonne und Mond waren beide am Himmel zu sehen. Der Mond hing als eine ganz spitze Sichel da oben. Autsch! Das müßte aber weh tun, an diese Spitze zu stoßen. Aber wer würde schon da oben dagegen stoßen? Ein Astronaut vielleicht, ein Flugzeug bestimmt nicht. Jannick wußte das, schließlich war er schon einmal geflogen, nach Portugal in die Ferien. Aber Spaß mußte es machen, da oben auf der Spitze des Mondes zu sitzen und mit den Beinen zu baumeln. Da könnte man alles herrlich überblicken. Noch viel besser als von dem Balkon ihrer neuen Wohnung. Das war zwar auch sehr hoch, aber der Mond, der war doch viel viel höher. Jannick fühlte, wie ihm ein wenig schwindlig wurde. Er hatte zu lange nach oben gestarrt. Er schloß die Augen, und als er sie wieder öffnete, riß er seinen Mund auf. Booh! Was war das? Wo war er? Sein Zimmer war verschwunden. Es war dunkel um ihn und unendlich weit. Die Sterne waren auf einmal ganz nah. Keine glitzernden Punkte, nein, wie riesige Bälle sahen sie aus. Er schaute an sich herunter und staunte noch mehr. Er saß auf der Spitze des Mondes und baumelte mit den Beinen. Ein wenig aufpassen mußte er schon, damit er nicht hinunterfiel. Aber die Aussicht! Toll! Was war das da hinten? Diese blaue Kugel mit den Wolken auf der einen Seite? So etwas hatte er schon einmal auf einem Foto in der Zeitung gesehen. Das sei die Erde, hatte die Mama gesagt. Ob das auch die Erde war, da unten? Wen sollte er fragen? Es war ja keiner außer ihm da auf dem Mond. Wieder kniff er die Augen zusammen und schaute angestrengt auf die blaue Kugel. Wenn er sich große Mühe gab, dann konnte er da unten große Städte erkennen und Meere und Flüsse. Und das, was aussah wie Ameisen, die wild durcheinander liefen, das mußten die Menschen sein. Wie aufgeregt die waren! Ach ja, es war ja bald Weihnachten. Da waren die Erwachsenen immer ein wenig aus dem Häuschen, Geschenke besorgen, dem Weih-nachtsmann helfen. Klar, die Kinder waren auch aufgeregt. Jannick dachte an das Gedicht, das er auswendig gelernt hatte. Au weh, er hatte schon wieder den Anfang vergessen, aber Mama würde schon helfen. Wo die wohl war? Ob er sie sehen konnte von hier oben? Jannick hatte sich wohl zu weit nach vorn gebeugt, denn plötzlich gab’s einen Ruck und er landete unsanft auf dem Boden. Er blickte sich um, sah viele Menschen, die an ihm vorüber hasteten. Autos hupten wie wild. Die Häuser ragten bis in den Himmel. Und eine Sprache drang an seine Ohren, die er noch nie gehört hatte. Die Menschen sahen auch ganz anders aus als die zu Hause. Schlitzaugen hatten sie und ein bißchen gelb sahen die Gesichter aus. Und von Weihnachten keine Spur! Jannick fing an zu zittern. Er hatte nun doch ein wenig Angst. Wenn er die Mama nicht wieder sehen würde, was dann? Da fühlte er sich wie von einer großen Hand gepackt und durch die Luft gewirbelt. Ganz plötzlich landete er wieder auf dem Boden. Und wieder waren fremde Menschen um ihn. Es war heiß und feucht. Die Menschen hatten schwarze Gesichter, das hatte er schon einmal zu Hause gesehen. Auch sie beachteten ihn nicht. Die großen Menschen hasteten durch die Straßen ihrer Stadt, einige Kinder aber standen verloren da und hielten die Hand auf und baten um ein wenig Geld oder etwas zu essen. Jannick war traurig. Er hatte doch nichts, was er ihnen geben konnte. Außerdem war es hier viel zu heiß, daß er sich hätte wohlfühlen können. Er dachte an die Mama, die war schon mal in Afrika gewesen, denn Afrika, da war er sicher, das war das Land, wo die Hand ihn abgesetzt hatte. Hier gab es keinen Schnee, auch nicht zu Weihnachten. Die armen Kinder, dachte Jannick, ich würde ihnen gerne was abgeben, wenn ich nur wieder zu Hause wäre. Wieder packte ihn die große, kräftige Hand und ließ ihn durch die Lüfte sausen. Aber nicht zu Hause landete er, sondern in einem Land, in dem es auch sehr heiß war und laut. In der Ferne konnte man gar Schüsse hören. Jannick hatte Angst. Wo war er nun hingeraten? Er blickte sich um, sah Männer mit dunklen Haaren und ernsten Augen. Sie trugen Uniformen und manche auch Gewehre. Die Frauen trugen lange Gewänder und huschten ganz schnell an ihm vorbei, so als hätten sie auch Angst. Aber da hinten, da war doch ein Kind. Jannick kniff wieder einmal die Augen zusammen. Klar, ein Junge war’s, in seinem Alter etwa. Der würde ihm helfen. Er lief schnell auf die andere Straßenseite. Es war gefährlich, denn die Autos sausten an ihm vorüber, als wäre der Teufel hinter ihnen her. Der Junge blickte ihn an und lächelte. „Hallo Jannick!“ „Du kennst mich? Und wieso kann ich deine Sprache verstehen? Ich bin doch nicht in ...“ „Du bist in Bethlehem. Hier bin ich geboren ...“ „Du bist ...?“ Jannick schüttelte voller Staunen den Kopf. „Aber ...“ Da gab’s einen lauten Rums. Jannick öffnete seine Augen und schüttelte benommen seinen Kopf. Er war doch tatsächlich von der Fensterbank gefallen, auf die er sich gesetzt hatte, als er den Mond beobachtete. Er blickte in den blaßblauen Himmel. Der Mond war nicht mehr zu sehen. Die Mutter kam in sein Zimmer, aufgeschreckt von dem Lärm, den ihr Sohn da machte. „Jannick, was ist mit dir? Was hast du angestellt?“ „Mama, stell dir vor, ich war in einem Land, wo die Menschen Schlitzaugen haben, und dann war ich in Afrika und beim Jesuskind war ich auch. Das ist aber so alt wie ich ...“ Jannick war ganz aufgeregt und hatte rote Wangen bekommen. Die Mutter aber staunte nur über die Phantasie ihres Kindes. Beim Jesuskind? Na ja, das lag wohl an Weih-nachten. „Na, Sohnemann, kannst du dein Gedicht nun?“ fragte sie. „Der Weihnachtsmann
und auch das Jesuskind möchten es ganz bestimmt gern hören heute abend bei der Bescherung.“ Jannick runzelte die Stirn. Das verflixte Gedicht. Wie war nur der Anfang. Ach ja: Denkt euch – ich habe das Christkind gesehn! Es kam aus dem Walde, das Mützchen voll Schnee, mit gefrorenem Näschen. Die kleinen Hände taten ihm weh, denn es trug einen Sack, der war gar schwer, schleppte und polterte hinter ihm her – was drin war, möchtet ihr wissen? Ihr Naseweise, ihr Schelmenpack – meint ihr, er wäre offen, der Sack? Zugebunden bis oben hin! Doch war gewiß was Schönes drin: Es roch nach Äpfeln und Nüssen! Nun gut, jetzt konnte der Weihnachtsmann kommen ... Wenn Träume wahr werden: Kleiner Mann auf dem Mond Tuschzeichnung: Constanze Schacht

 
     
     
 
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