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Folklore einmal ganz hautnah

 
     
 
Wer sich ins Ausland begibt, will seine Folklore haben. Er kauft sie sich pfundweise oder in homöopathischen Dosen, auf jeden Fall aber garantiert volksnah gleich mit Flugticket, Studienfahrschein oder Grenzvisum ein. Es gehört sich einfach, am dichtbevölkerten südlichen Strand nicht nur dem daheimeligen Nachbarn auf den Bauch zu schielen, in nordischen Wäldern Urviechern auf den Pelz zu rücken, Sangesbrüdern aller Art aufs Mundwerk zu schauen und Allerwelt auf die Langfinger zu sehen, nein, es gehört sich einfach, auf Reisen anderen Menschen folklorenah zu kommen.

Es soll Unternehmungen geben, die sich mit dem Bestaunen durch die unsichtbare
n Gitterstäbe einer Guckkastenbühne begnügen. Es soll Unternehmungen geben, die mit dem Abkassierhut in der Hand einen natürlichen Bannkreis um das zu besichtigende Volkswesen ziehen. Das alles galt nicht bei Meyer & Co.

Denn Meyer & Co. - und vor allem hier Co., der an hervorragender Stelle im jeweiligen Volke selber saß - ließ seine Reisegruppen nicht nur während der gesamten Reise eng beieinander, sondern auch hautnah bei besagter Folklore sitzen. Das war Meyer & Co.s Spezialität, die dementsprechend zu bezahlen war.

Diese Spezialität traf aufs glück-lichste mit Meyer & Co.s zweiter Spezialität zusammen, auch die Zeit zu sparen. Unzweifelhafter Höhepunkt vollzog sich regelmäßig in Mazulku. Genauer gesagt im Keller-

gewölbe des Seerestaurants "Zum Seeadler", das in seinem Jahrhundertleben zwar schon etliche Wappenadler hatte sterben, aber noch nie einen Seeadler hatte fliegen sehen.

Wieder saßen hier an zwei langgestreckten Tischen samt deren notgedrungenen Seitenhängseln zwei

Reisegruppen in engster Tuchfühlung zusammen. Ein paar Kerzennachahmer an den Wänden hatten die Abenddüsternis draußen zu Schummervertraulichkeit im Gewölbe umgewandelt. Unwahr die Behauptung, man habe mehr Licht gescheut, um ein paar Risse am Treppenläufer nicht sichtbar werden zu lassen.

Es war von einmaliger Mustergültigkeit getragen, wie sich kaum eine halbe Stunde nach Eingangserregung der Gemüter die zehnköpfige Folklore- gemeinsam mit der vierköpfigen Kellnertruppe - letztere Tabletts voller schwappender Suppentassen balancierend - aus dem Küchengang heraus ergoß. Auf erstem spontanem Beifallsfluß umsteuerte die Folkloregruppe die Tische, ehe sie sich auf schmalem Platz zwischen Küchengang und Tischen zur Kunst zusammenfand, den übrigen Raum Kellnern und schmatzenden Mündern überließ.

Die Gruppe sang und tanzte mit bewundernswerter Unbekümmertheit. Hei, wie Arme und Beine flogen, Körper scheinbar schwerelos um sich selbst rotierten, Röcke und Hosen umeinander schwenkten, zu Knäueln wurden, wie bunte Bälle weit auseinanderhüpften. Dahinein absolvierte die Kellnertruppe mit ihrem körpergeschmeidigen, grotesk-akrobatischen Dazwischenschreiten ihre Auf- und Abtritte zwischen Küche und Gästetischen. Die von Happen zu Happen offenen Gästemünder schienen so oft nicht zu wissen, wem sie den Beifall zustaunen sollten.

Nach der Suppe der Salat. Er türmte sich in ovalen Schalen. Die ovalen Schalen stapelten sich zu Pyramiden auf den Tabletts. Die Tabletts suchten hoch über den Köpfen der wirbelnd Tanzenden schwebend die Tische zu erreichen, wurden unversehens in den Wirbel einbezogen. Salat löste sich wirbeltaumelnd von den Schalen, umgaukelte die Tänzer. Schalen kamen vor Mitmachfreude ins Rutschen, wurden nur mühsam von den Kellnern in ihre Tablettschranken verwiesen. Die Tabletts sanken erschrocken auf die Tische, nicht achtend manch darübergebeugten Gästekopfes.

Stürmischer Beifall für diese unerwartete Glanznummer. Anhaltender Beifall. Da capo, da capo, hörte man den Maitre de folkloreplaisir den Kellnern zuzischen. Er wollte den Salatwirbelbeifall anfachen und auskosten, solange es ging. Doch offensichtlich hatte die Küche Nachschubschwierigkeiten mit dem Salat. Man ging weiter in Programm und Speisekarte. Und es ging wahrhaft Schlag auf Schlag weiter. Bei einem Klatschtanz verfehlte eine Hand die andere, traf dafür aber als saftige Ohrfeige einen Kellnerkopf. Dramatisch spitzte es sich zu, als ein Schmutztellerturm, bedrängt von einem hochgerissenen Bein, ins Schwanken geriet und nur durch das beherzte Eingreifen eines Kellnerfrackes und mit einem Bravourstück an Jonglierkunst, das einem Hindernislauf glich, außer Sicht gerettet wurde. Das unmittelbar darauf aus dem Hintergrund hörbare Scheppern kann vielleicht auch ein Kochdeckelfuriosum in der Küche gewesen sein.

Immer neues rasendes Abenteuer vor dem Küchengang. Immer neu figurierter Ausdruckstanz. Er griff auf die Gäste über. Sie standen immer wieder vor der qualvollen Entscheidung, dieses farbenbrillante, wildstampferische oder gemächlich singwogende Ereignis in die Farbfilme ihrer Fotoapparate einzuheimsen oder ungerührt die Suppe auszulöffeln, die zarten Fleischbrocken aufzuspießen, nach verlaufenen Erbsen zu haschen, das gekühlte Beiwasser nicht warm werden zu lassen. Diese Entscheidung mußte zudem angesichts der Gefahr gefällt werden, daß die flotte Kellnertruppe das Geschirr wie auf Kommando radikal abräumte, gleichgültig, ob es von seinen Spezialitätenwundern genußvoll befreit war oder nicht. So begann neben der Folklore auch bei den Gästen in notwilder Prägung ein Tanz von Tafelgenuß zu Kameraeinstellung.

Die allgemeine Begeisterung ebbte erst ein wenig ab, als durch die Magenfülle Ermüdungserscheinungen auftraten und ein Geiger, so wie er es Filmzigeunern abgelauscht haben mochte, um die Tische schlich. Haarscharf ratschte er mit seinem Fiedelbogen an Ohren vorbei, riskierte mit einer versehentlich aufgespießten Grilltomate sogar einen Mißton.

Doch was ist so ein Folkloreabend schon ohne die blondgesträhnte Verbeugung in Richtung der hochdotierten Gäste. Und so schnalzten und schnulzten die Folkloristen schließlich vom Rhein, der so schön ist, vom Theodor, der im Fußballtor steht, und vom Aufwiedersehn.

Ein paar Tränen freilich, die wenig später vergossen wurden, galten leider nicht diesem Aufwiedersehn, sondern einem folkloreberauscht aus der Kamera entlassenen Film, der in der Schnelle des Aufbruchs unter ein Salatblatt gerutscht und daselbst vergessen worden war. Die Tränen waren mindestens ebenso echt wie die eben samt Abendessen genossene Folklore.

 

Brauchtum pflegen: Volkstanz kann, wenn er nicht kommerziell vereinnahmt wird, viel Freude bereiten. Auf diesem Foto sind Kinder und Jugendliche zu sehen, die in ostdeutscher Tracht heimatliche Tänze vorführen. /font>

 
     
     
 
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