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Unten packten sie, im Keller, in dem sie seit Wochen hausten. Gleich Wühlmäusen arbeiteten sie sich durch ihre Habseligkeiten. Wählten dies, verwarfen jenes. Vor einer halben Stunde hatten sie sich entschlossen, die Stadt, um die der Endkampf entbrannte, zu verlassen. Des Kindes Mutter war ausschlaggebend für diese Entscheidung gewesen. In letzter Zeit gab stets ihre Meinung den Ausschlag. Niemand der Kellergemeinschaft hatte sie zur Sprecherin gewählt, ihr das Vertrauen ausgesprochen. Es war von allein so gekommen. Entscheidend für den Entschluß "fortzumachen" waren Soldaten gewesen, die "letzten Verteidiger der Stadt". Sie suchten die Häuser nach Unterkünfte n, wahrscheinlich auch aus strategischen Gesichtspunkten, ab. Sie hatten mit der Frau einen Blick gewechselt, auf die Kinder und Halbwüchsigen gedeutet. Die Frau hatte verstanden.
"Wir gehen", sagte sie. Ob es gleich sein müsse? Am besten gleich.
Da fingen sie zu packen an. "Nur Handgepäck", rieten die Soldaten. "Ihr kommt mit nichts anderem mehr durch." Überhaupt wäre es fraglich, ob die Fluchtroute noch frei sei. Russische Panzereinheiten würden in Zangenbewegung vorstoßen ...
Es sollte sich herausstellen, daß der Fluchtweg keineswegs frei war und daß sie zuletzt auch das Handgepäck verloren. Viele das Leben. Das wußten die Leute im Keller zur Zeit selbstverständlich nicht.
Das Kind hatte seinen Rucksack und eine Aktentasche schon vor Tagen gepackt. Eine Neigung wurde offenkundig, die es als Erwachsene beibehalten sollte. "Vorarbeiten", nannte das Kind es. "Die spinnt", wurde die Neigung von Schulkameraden bezüglich der Hausaufgaben kommentiert.
Das Kind brachte die Gepäckstücke vor die Haustür, stellte sie in den Schnee. Feuerschein zuckte über den Himmel. Das Kind sah gar nicht hin. Seit den Bombardements auf die Stadt im August des vergangenen Jahres, als sie "Weihnachtsbäume" setzten, bevor die Vernichtung begann, mochte das Kind Feuerschein nicht. "Es langweilt mich", brachte es fertig zu sagen und blickte ausdruckslos in die Gesichter Erwachsener. Es sei ein zynisches Kind, fanden viele. Im Grunde kaltschnäuzig ...
Das Kind blickte zum Keller hinein. Sie packten noch immer. Emsig. Vermochten sich nicht zu entschließen, was mitzunehmen sei. "Ausweise, wichtige Papiere, warme Wäsche, Schuhe", empfahl die Mutter des Kindes. Statt dessen packten sie eine Lieblingstasse, ein Sommerkleid, Fotoalben ein. Wie gesagt, blieb es sich ja auch gleich. Sie verloren es samt und sonders.
Das Kind schlich davon. Es bahnte sich den Weg in die Wohnung hinauf. Einer Promenade glich er nicht. Einschläge hatten das Haus sowie sein Innenleben verändert. Teilweise fehlte das Treppengeländer. Aufgerissene Stufen mußten überklettert werden. Bis zur Parterrewohnung ging es gut. Die Korridortür stand offen, wie übrigens alle Türen im Haus. Schneehelles Dämmerlicht erlaubte, bis in die Küche zu blicken. Auf dem Küchentisch befand sich ein Vogelbauer mit zwei Wellenssittichen.
Das Kind drängte sich an der Wohnung, die ihm eine Höhle dünkte, vorbei. Es wollte in den 1. Stock. Es mußte strikt links an der Wand bleiben. Das zertrümmerte Treppenstück war zu umgehen. Dem Kind gelang es, so leicht wie gestern und vorgestern. Es schlüpfte in die elterliche Wohnung. Zielgerade lief es in sein Zimmer. Da blieb es stehen. Nach einer Weile bemerkte das Kind, daß es fror. Die Fensterscheiben waren zersplittert. Eisiger Wind trieb herein. Scherben glitzerten auf der Bettdecke, dem Schreibtisch, lagen über den Boden verstreut. Beim Weitergehen knirschten sie unter des Kindes Füßen.
Es trat an den Schreibtisch. Die Kladde mit dem Anfang des letzten, nicht fertiggestellten Klassenaufsatzes lag dort: "Die Schlacht auf den Katalaunischen Feldern". Daneben befand sich ein Gemenge loser Zettel. Sie enthielten Notizen, die in den Aufsatz eingebaut werden sollten. Die Zettel waren der Reihenfolge des Einbaus entsprechend sortiert. Diese Arbeitsweise hatte das Kind ausgetüftelt. "Im Sommer des Jahres 451 ...", las es, und daß die Römer und Westgoten im Kampf gegen die Hunnen durch den Sonnenstand begünstigt worden waren. Endlos lange war es her. Verwundert, daß ihm diese Tatsache jetzt erst auffiel, schüttelte das Kind den Kopf. Es klappte das Schulheft zu. Schloß es ins Schubfach. Die Zettel landeten im Papierkorb. Den Füllfederhalter und die Bleistifte legte das Kind in die Schale.
Nun schaute es sich um. Hätte das Kind einen Freund, eine Freundin bei sich gehabt, hätte es zugegeben, daß dies der komplizierteste Augenblick war. In vielen hohen Wandregalen reihten sich die Bücher des Kindes. Man kann sagen, es war eine Bibliothek. Sorgfältig katalogisiert, jeder Band auf den Millimeter am Regalrand abschließend. Fast ausschließlich handelte es sich um Bücher der Weltgeschichte, Bildbände aller Epochen waren dabei. Die Lieblingsschriftsteller Dickens, Mark Twain, Lagerlöf. Alles Geschenke von Menschen, die an der Lesesucht und den Lesegepflogenheiten des Kindes keinen Anstoß nahmen. Im untersten Regal befanden sich die ersten Bilderbücher. Etwas zerfleddert, viel benutzt. Es hatte sich nicht von ihnen trennen wollen.
Das Kind bemerkte eine leere Stelle im Regal. Dort gehörte das Zille-Album hin. Es lag aufgeschlagen am Leseplatz. Das Kind ging hin. Auf dem Blatt pfiff eine aus der Kellerwohnung lugende Frau die Hinterhofkinder von einer einsamen Blume zurück: "Dat ihr mir nich im Jarten spielt." Es war, sozusagen, das Leib- und Magenbuch des Kindes. Mit einem Griff schlug es das Album zu, fügte es an der freien Stelle ein.
"Ordnung ist das halbe Leben", wisperte das Kind. Es ist anzunehmen, daß es bleich um Mund und Nase aussah. Es rührte sich nicht. Stand starr - und hier geschah es. Das Kind wurde umgebaut. Jetzt entwickelte sich der Keim zu der geradezu pathologischen Eigenheit der späteren Erwachsenen, keinerlei Besitz erwerben zu wollen; das heißt, nichts, was ans Herz wachsen konnte. Nichts, was bei Verlust schmerzen würde. Das galt für Bücher genauso wie für liebgewonnene Möbelstücke. Es galt für jegliche Andenken, für Erinnerung. Es galt sogar, in extremer Steigerung dieser Verwunderung, für Menschen, die sie liebte. "Was man nicht besitzt, kann man nicht verlieren."
Das Kind bog die Finger auseinander. Es hatte nicht gespürt, daß es sie zusammengekrallt gehalten hatte.
Es verließ die Wohnung, zog die Tür hinter sich zu. Tatsächlich schloß es die Wohnung ab, steckte den Schlüssel unter den Fußabtreter. Das war zwischen Mutter und ihm seit Jahren vereinbart, war Gewohnheit geworden. Verlor einer seinen Schlüssel, konnte er mit diesem zur Wohnung hinein, unverzüglich. Man spürte ihn, sobald man auf die Matte trat. "Herzlich willkommen. Und viel Vergnügen", murmelte das Kind.
Jahre später erfuhr die Erwachsene, daß sämtliche Bildbände im Umtausch gegen Lebensmittel verhökert worden waren. Sie erinnert sich, daß sie sich darüber freute ...
Das Kind stapfte über die Treppe zurück. Wich den Einschlagstellen aus. Es erreichte die Parterrewohnung. Die Wellensittiche hockten noch im Käfig. Vom Keller drangen Stimmen herauf. Des Kindes Name fiel. Sie riefen nach ihm. Hasten. Eilen. Koffer wurden ins Freie geschleppt. Die Kellermenschen sammelten sich vor dem Haus. Ohne zu zögern, betrat das Kind die fremde Wohnung. Es öffnete die Klappe des Vogelbauers. Streute das gesamte vorhandene Futter aus. Goß den Inhalt der Wasserkanne in eine Blechschüssel. Für eine Weile mochten die Sittiche versorgt sein. Danach jedoch ... Das Kind stelzte zu den Versammelten. Sie schauten ihm entgegen. Etwas mußte sie befremden.
"Wir warten auf dich. Wo warst du? Was hast du so lange gemacht?"
"Ich habe Vögel gefüttert."
Sie schwiegen bestürzt. Bauten ihm eine Brücke. "Hast du dir ein Andenken ausgesucht? Etwas Schönes? Was nimmst du mit?"
Das Kind drückte den Kopf in den Nacken. Wahrscheinlich vermittelten seine Augen den Eindruck, es befände sich schon weit weg.
"Nichts", antwortete es. Sie begannen loszugehen.
In manchen Stunden blickt sich die Erwachsene in der Wohnung um. Eine prachtvolle Behausung, stellt sie dann fest. Viel Raum mit wenigen Möbeln. Ihr Lebensgefährte berücksichtigt ihren Tick. Der Umwelt gegenüber gibt sie die spartanische Einrichtung als "japanisch orientierten Geschmack" aus. Denn was soll man sonst sagen? Jedes Stück ist von ihm ausgesucht. Eine handgeschnitzte Chinabank, die auf abenteuerlichen Wegen zu ihm geriet. Ein Lothringer Barockschrank, ebensolche Kommode. Eine Jugendstiluhr, deren Zugmechanismus eigentümlich knarrt. Die Erwachsene redet sich ein, alles gehöre dem Lebensgefährten. Aber da liegt nun dieser Teppich in ihrem Arbeitszimmer. Ein Geschenk von ihm, speziell für sie. Allerlei Fabeltiere zieren ihn. Drachen und Paradiesvögel. In der Mitte befindet sich das Mandala, der "innere Raum", ein Gewerbekunstwerk. "Feuerspeiende Drachen; das muß dir doch gefallen", hatte er gesagt, als der Teppich eines mittags hingelegt wurde ...
In manchen Stunden bleibt sie vor dem Teppich stehen. Ihr Blick gleitet zum Bücherschrank. Von Lexika und Mengen Arbeitsmaterialien abgesehen gibt es lediglich eine Reihe Manesse-Bibliothek. Und den Zille. Schlägt sie das Album auf, kann es geschehen, daß jenes Gefühl von damals sie überfällt. Die Starre. Sie preßt die Hände zusammen. Behält Drachen und Vögel des Teppichs im Auge. Ihres Teppichs, ganz eindeutig. Ein Geschenk. Von ihm. Wenn sie jetzt wiederum gehen müßte, sich umwenden, fort ... Sie drückt den Kopf in den Nacken. "Und wenn schon", flüstert sie. "Gelernt ist gelernt."
Ursel Dörr: Klirrende Kälte (Aquarell) |
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