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Arbeit in der UdSSR ist eine Sache des Ruhms und der Ehre." GULag ist die Abkürzung für die Hauptverwaltung für die Besserungsarbeitslager, eine Behörde, der in den 30er Jahren alle Straflager in der UdSSR unterstellt wurden. Bis zum Ende der 20er Jahre hatte es zwei Arten von Lagern gegeben: die einen, bestimmt für Kriminelle, die anderen bestimmt für politische Häftlinge. Mit der Kollektivierung der Landwirtschaft schwoll die Zahl der Häftlinge so stark an, daß kurze Zeit darauf dem GULag das gesamte Lagersystem der UdSSR unterstellt wurde. Verwaltet wurde ein weitverzweigtes und sich ständig erweiterndes Netz von Straflagern.
Von 1929 bis zu Stalins Tod 1953 haben ungefähr 18 Millionen Menschen das gewaltige System von Zwangsarbeitslagern durchlaufen. Ungefähr 4,5 Millionen Menschen kehrten nicht zurück.
Anfang des 20. Jahrhunderts waren Gefängnisreformen Mode geworden. Auch das zaristische Gefängnissystem wurde aufgelockert und die Bewachung entschärft. "Wenn man bedenkt, was danach kommen sollte", schreibt Anne Appelbaum in "Der GULag", "dann war der Marsch nach Sibirien für die kleine Gruppe von Männern, die später die russische Revolution anführen sollten, zwar auch kein Vergnügen, aber wohl kaum eine schwere Strafe." Die Bolschewikis galten nicht als Kriminelle, sondern als "politische Gefangene" und wurden daher bevorzugt behandelt. Sie waren ordentlich ernährt, gut gekleidet und bekamen sogar Bücher sowie Schreibpapier. Diesen Männern halfen ihre eigenen Erfahrungen aus zaristischen Gefängnissen ein Modell zu schaffen, daß "sicher" war. Sie sollten einige Jahre später mit ihren Feinden anders umgehen. Isoliert kann das sowjetisch e Lagersystem jedoch nicht betrachtet werden. Der GULag entstand zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort und ist verbunden mit verschiedenen Geschehnissen. Es kann von der Geschichte ganz Europas nicht getrennt werden.
Anne Appelbaum wurde 1964 in Washington D. C. geboren und versucht als amerikanische Journalistin der Geschichte neutral gegenüberzustehen. Die Autorin stützt sich auf umfangreiches Quellenmaterial, das erst kürzlich der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde. Sie sprach mit Überlebenden und rekonstruierte aus den Häftlingserinnerungen den Lageralltag. Überlebensstrategien, zwischenmenschliche Erfahrungen, Kinder und Frauen in den Lagern, Rebellion, Streiks und Flucht werden zum Thema gemacht. Sie schaut hinter die Kulissen und erzählt die Geschichten der "kleinen Leute" in den Lagern: ein Bauer, der eingesperrt wurde, weil er sein eigenes Ferkel auf einem Markt verkauft hatte, von Kuriositäten, wie die, daß erstklassige Fußballspieler verhaftet wurden, weil ihre Mannschaft "Spartak" Lawrentin Berijas Lieblingsmannschaft "Dynamo" etwas zu klar besiegt hatte. Unzählige Einzelheiten aus dem Leben im Lager, wie man sie sonst nirgendwo so gehäuft liest, machen das Buch unentbehrlich.
Jedoch präsentiert die Autorin nicht ausschließlich Alltagsgeschichte, sondern untersucht auch die wirtschaftliche und politische Bedeutung des Zwangsarbeitssystems, das unter Stalin seinen Höhepunkt hatte. Das Buch ist eingeteilt in drei große Kapitel: Der erste Teil bearbeitet die Ursprünge des
GULags zwischen 1917 bis 1939, der zweite beschäftigt sich mit dem Leben und der Arbeit in den Lagern, ein drittes Kapitel steht unter dem Titel "Aufstieg und Fall des Lager-Industrie-Komplexes 1940-1986".
Anne Appelbaum hat es geschafft, ein Buch zu veröffentlichen, das Forschung und Erzählungen von Überlebenden hervorragend zusammenbringt, und durch diese neue Perspektive Ergebnisse bekommen, die nur aus der Forschung nicht zu ziehen wären.
Anne Appelbaum: "Der GULag", Siedler, Berlin 2003, geb., 720 Seiten, 32 Euro
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