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Tauwetter-Seen

 
     
 
Der Winter in diesem Jahr ist schneereich, bis in die Ebenen hinein haben wir immer wieder einmal die weiße Pracht, die dem Alltag das Dunkle und Schwere nimmt. Aber nun nimmt die Angst vor Hochwasser zu. Und so bin ich in Gedanken schnell bei dem Frühjahrs-Tauwetter tohus in Ostdeutschland.

Während ich bisher in Ohldorf bei Gumbinnen im Blickwinkel meiner Schule wohnte, habe ich nun, da wir beim Großvater leben, einen langen Weg bis zu meiner Backsteinschule, die auch meine Mutter und ihre Geschwister schon besucht haben. Langweilig werden mir
die Schulwege nicht, da meine beiden Cousins von den Nachbarhöfen und andere Lorbasse mit mir durch den hohen Schnee stapfen. Es sind, aus dem Erinnern gesehen, nur Jungens, ich bin die einzige Marjell.

Plötzlich aber haben wir Tauwetter, das uns Hochwasser bringt. Ich tausche meine Pareskes gegen hohe, wasserdichte Schuhe. Sie allein sind schon schwer genug an meinen Kinderbeinchen, aber Morast und Schmutz müssen zusätzlich fortbewegt werden. Irgendwie schaffe ich es; prustend und stapfend komme ich bis zu dem die Wegstrecke teilenden Bach. Dieser ist nun Fluß, beinahe so breit wie die Inster, und der kleine Holzsteg ist verschwunden, untergetaucht im Bachbett. "Wi motte stoake", sagt Cousin Siegmar. Alle Jungen nehmen sich die dort bereit liegenden Staken und schwingen sich mit ihnen sportlich-lässig über das nun verbreiterte Bachbett. Nun bin ich an der Reihe.

Ich nehme die Stange. Alle Lorbasse schauen interessiert zu, sie sind mucksmäuschenstill (das Staken hatte ich übrigens schon lange vorher gelernt, das beherrschte ich). Ich stelle die Stange in das Wasser und schwinge mich mit Courage auf die andere Seite. Zu kurz geschwungen, ich rutsche in den Bach, versinke bis zur Brust im kalten Schmelzwasser. "Erscht dem Tornister", brüllen die Lorbasse sich zu, bevor sie sich daran machen, mich aus den Fluten zu ziehen.

Was nun? Die halbe Wegstrecke liegt noch vor uns, so etwa drei Kilometer. "Utteene", fordern die Jungens. Bis auf die Unterhose mit Klappe und Leibchen habe ich mich ausgezogen und stehe frierend da, schloddernd, mit den Zähnen klappernd. Die Lorbasse kleiden mich ein. Einer gibt mir seine langen wollenden Socken, die mir bis zum Po reichen. "Ek go barft enne Schoah", sagt er. Siegmar opfert mir seinen wärmenden Westover, Horst seine großen Stiefel, er geht auf Socken weiter. Alle vorhandenen Schals werden um meinen zarten Körper gewickelt, und so falle ich später mit meinem Gefolge in die Schule Schwarzfelde ein.

In der Küche der Frau Lehrer werde ich aufgewärmt. Sie staffiert mich mit Kleidungsstücken aller Art aus, die mich verwegen und sonderbar aussehen lassen. Seltsam! Ich erinnere mich nicht mehr daran, wie wir nach Hause gegangen sind.
 
     
     
 
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