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Tierpark oder Tierhospiz?

 
     
 
Der Regen vor einer Stunde ist Geschichte. Die Sonne scheint vom Himmel, als wolle sie auch noch die letzte Feuchtigkeit aus dem Boden ziehen. Der Bus spuckt seine Passagiere an der Haltestelle Zoo aus, losrennen wollte aber keiner so recht. Und sogar die Kinder, die es sonst nicht abwarten können, schlurfen vor sich hin. Viele Besucher kommen herüber vom Park um die Luisenkirche, der mit seinen großen Bäumen viel Schatten spendet. Der Besuch des einst so schönen Tiergartens sollte sich zum Trauermarsch durch die Welt der Fauna entwickeln.

Der Eingang des Königsberger Tiergartens ist wenig einladend, zwei Betonpfeiler mit einem verrosteten Stahltor dazwischen. Die Masse hat sich nach Erhalt der Eintrittskarten schnell verteilt. Der Eintrittspreis ist auch für russische Verhältnisse moderat. Für Erwachsene kostet der Eintritt 100 Rubel (knapp drei Euro), was auch in Englisch nachzulesen ist. Einige wissen, wo sie hin wollen, andere stehen da und überlegen.

Eine gewaltige, runde Steinbalustrade mit ein Meter hohen Skulpturen blockiert den Blick in den Tiergarten. Die Figuren erinnern an die sieben Zwerge aus Schneewittchen, manche sehen eher aus wie Schlümpfe.

Sie bilden den oberen Abschluß einer Anlage, die sowohl als Freilufttheater als auch für Tiervorführungen gedient haben könnte. Auf verschiedenen Ebenen, in Hufeisenform, könnten sich Tiere, aber auch Zuschauer einst bewegt haben. Aber in dieser Anlage wurde lange keine Vorstellung mehr gegeben, die heruntergekommenen Bauteile vereinigten sich mit dem Schmutz vieler Jahre aus der Luft von Königsberg. Wildwuchs macht sich in allen Ritzen und Spalten breit. Die Massen traben daran vorbei, denn man möchte ja Tiere sehen und nicht verfallende Bauwerke.

Ein langer Weg unter schattenspendenden Bäumen. Über eine Schlucht, auf deren Grund ein Rinnsal seinen Weg sucht, erreichen die Kinder das erste Gehege. Nun laufen sie auch schneller, erwartungsfroh. Einige Enten und ein Schwan sitzen da und streiten nicht um den Brocken, der ihnen hingeworfen wurde. Auch die drei Pelikane, die nicht im Wasserbecken ihr Gefieder verschmutzen möchten, bleiben ruhig. Apathie kommt dem Besucher in den Sinn.

Die Hinweisschilder, allesamt in frischen Farben und mit Tiersymbolen versehen, nicht jeder Besucher kann die kyrillischen Schriftzeichen lesen, zeigen an, wo es lang geht.

Bis zum nächsten Gehege oder Käfig dauert es, und man passiert einige leere und heruntergekommene Behausungen von Tieren, die schon lange nicht mehr leben. In einem viel zu kleinen Gehege dösen ein halbes Dutzend heimische Hirsch
e im Schatten eines Baumes.

Wildwuchs von Flora aller Art, sagen wir mal Unkraut, verdeckt zum Teil die verrosteten Metallteile. Dann endlich - oder lieber nicht - ein kleines Flußpferd in der prallen Sonne, auf sandigem Boden liegend. Ohne Wasser in einem Becken oder wenigstens einer Bodenvertiefung. Die Haut des kleinen Tieres spannt sich, droht fast zu platzen. Mitleid kommt auf. Hilflos blicken sich einige Besucher um, vielleicht einen Tierpfleger zu entdecken, der Hilfe geben könnte. Vergeblich.

Die angekündigte Seelöwenanlage ist verwaist, kein springender Seelöwe, kein Wasser im Becken, die Kacheln abgeplatzt. Vielleicht zieren sie inzwischen ein privates Badezimmer bei einem der Wärter. Es muß sie geben, aber man kann niemanden entdecken. Wapitihirsche, ein paar traurige Antilopen und Ziegen stehen im Schatten einer Linde.

Etwas weiter dringt Juchzen und Kinderlachen um eine Ecke ans Ohr. Da ist was los. Tatsächlich, eine Bärin tollt mit ihrem Jungen in der Felsformation. Die kleine Bodenvertiefung im Betonboden, gefüllt mit Wasser, ist die Spielfläche des kleinen knuffigen Pelztieres. Mutter und Kind genießen die Aufmerksamkeit der vielen Menschen und freuen sich über Mengen von Keksen und

Toastbrotscheiben, die schon im Flug gefaßt werden. Übung macht den Meister.

Niemand kann sich dem Charme des kleinen Bären entziehen, und so bleiben die Menschen bewundernd und lange an der Anlage stehen.

Einen weiteren Bewohner des Tiergartens hätte man sich gern erspart. Die Besucher stehen fassungslos davor. Eine betagte Bärenrobbe dreht schnaubend ihre Kreise in dunkelgrünem Wasser, so undurchsichtig wie Tinte. Die fallenden Blätter eines nahestehenden Baums legen sich wie ein Tuch auf die Wasseroberfläche. Andere sind bereits verfault und dicken die Brühe ein.

Die etwa zwei Meter lange Robbe schwimmt immer die gleiche Strecke und in der gleichen Zeit, bis das Tier wieder für zehn Sekunden in der Ecke auftaucht, wo die Zuschauer stehen. Es blickt jedes Mal die Menschen an und brüllt laut, aber sehr heiser. Dann taucht sie wieder ab. Wenn man weiß, daß Robben gesellige Tiere sind, macht die Situation traurig. Aber das wäre noch erträglich. Die tiefen und blutenden Verletzungen am ganzen Körper tun dem Betrachter weh. Es sieht aus wie aufgesprungene Furunkel, von der Größe eines Tennisballs.

Den einen Elefanten im völlig dunklen Verlies haben sich die meisten der Besucher erspart. Schon die Eingangstüren zum Ele-

fantenhaus - es sträubt sich die Feder, den Namen zu benutzen - werden von den Scharnieren gerade noch gehalten.

Die drei Giraffen hatten es vergleichsweise komfortabel im Freien.

Die Tapire daneben weniger, so auf dem trockenen und festgetrampelten Erdreich und gewohnt, feuchten Regenwald unter den weichen Sohlen zu haben. Ohne Wasser und weit weg von artgerechter Haltung.

Aber es gibt auch etwas Erfreuliches, vielleicht ein Fingerzeig in die Richtung einer Veränderung, die einen Tiergarten zum Ziel hat, der zufriedene Tiere und fröhliche Besucher zusammenführt. Positiv ist eine Anlage, die mit Spendengeldern aus England erstellt wurde. Antilopen haben ein ansprechendes Gehege mit winterfestem Haus erhalten.

Einen kleinen Schock bekommen die Zuschauer dann bei den Primaten, den uns so ähnlichen Wesen. Man fühlt sich fast selbst beleidigt, wenn man die Käfige sieht, denn die Affen kann man hinter dem Gitter nur erahnen. Die Käfige sind innen schwarz angestrichen oder der Schmutz von Generationen von Affen läßt sich nicht mehr entfernen.

Als Gitter, und das macht die Sicht auf die Tiere so schwer, dienen starke Eisenstäbe mit einem Durchmesser von etwa 16 bis 20 Millimeter, schwarz gestrichen und in einem Abstand zwischen 30 bis 50 Millimeter. Das Ärmchen eines Jungtieres paßt gerade so dazwischen.

Gut, daß man nicht alle Tiere in ihrem Elend erkennen kann, wenn sie mehr als einen Meter weiter drin im Käfig sitzen. Aber die meisten drük-

ken den ganzen Tag ihr Gesicht an die Stäbe, die schon Spuren hinterlassen haben. Senkrechte Rillen in den Gesichtern zeugen davon. Die traurigen Augen zwischen den Stäben, manchmal zucken die Augenlider, fragen laut nach Hilfe. Sie leben, wie es scheint, in einem Hospiz.

Es fehlt offensichtlich am geeigneten Pflegepersonal, was mit den nicht vorhanden finanziellen Mitteln zu begründen ist. Schlimmer ist die Befürchtung, daß aus dem gleichen Grund nicht genügend Futter gekauft werden kann.

Die Bewertung Tiergarten verdient die gesamte Anlage eigentlich nicht, auch wenn ein weiteres neues Haus im Bau ist. Aber was es beherbergen soll, kann man sich nicht so recht vorstellen. Ein bißchen sieht es nach Gaststätte aus oder Hotel, aber auch ein Verwaltungsbau wäre möglich - für Primaten der anderen Art.

Etwas konsterniert verläßt man den Tiergarten, ohne auf neue Schilder zu achten, die auf Tiere hinweisen. Wahrscheinlich steht man ja doch vor einem leeren Käfig. Im günstigsten Fall. Beim Gang durch die Anlage sucht man wenigstens nach etwas Flora, die mit freundlichen Blüten Farbe ins triste Umfeld bringt. Aber, als ob sich alles gegen heile Umwelt verschworen hat, es zeigt sich nichts. Mitleidig geht man an den Besuchern vorbei, die erwartungsfroh gerade erst ihren Gang, ihren Trauermarsch, durch den Tiergarten beginnen.

Nicht artgerechte Tierhaltung: Affe im Königsberger Tierpark
 
     
     
 
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