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Als die Tataren in Deutschland einfielen

 
     
 
Vor 350 Jahren begann der große Tatarensturm auf Ostdeutschland, eines der grausamsten Geschehnisse in der Geschichte dieser Region, die sich verheerend auf das Land und seine Menschen auswirkte. Man sprach bis in unsere Zeit hinein nur mit Schaudern von den "Tattern", deren Spuren noch immer erhalten blieben wie im Namen des Lycker "Tatarensees", wie in den eingeschlagenen Schädeln der Opfer in der Vaterländischen Gedenkhalle in Lötzen, wie im "Tatarenlied" des Pfarrers Johann Molitor aus Groß Rosinko / Groß Rosen. Als die "Gelbgesichtigen" dann abzogen, hinterließen sie ein zerstörtes Gebiet von 180 Kilometer Länge und 75 Kilometer Breite mit 13 vernichteten Städten, 249 dem Erdboden gleichgemachten Dörfern, 37 verbrannten Kirchen und unzähligen "wüst" gewordenen Höfen. 23000 Menschen waren erschlagen, 34000 Einwohner, vor allem Frauen, verschleppt worden - für das damals noch dünnbesiedelte Land eine kaum vorstellbare Wunde, die dann durch die von den Tataren eingeschleppte Pest noch breiter klaffte und das Land ausbluten ließ.

Wie war es zu diesem furchtbaren Einfall in das vom Dreißigjährigen Krieg
verschont gebliebene Preußen gekommen? Auch nach dem Westfälischen Frieden legte die damalige Großmacht Schweden die Waffen nicht zur Seite, der jahrzehntelange Kampf um die polnische Krone flammte wieder auf. Königin Christine von Schweden hatte bei ihrer Abdankung im Jahr 1654 ihren Vetter Karl-Gustav von Pfalz-Zweibrücken zu ihrem Nachfolger bestimmt, der als Karl X. Gustav gekrönt wurde. Eine andere Linie des schwedischen Hauses Wasa regierte in Polen. Als der polnische König Kasimir den neuen Schwedenkönig nicht anerkennen wollte, begann 1655 der Schwedisch-Polnische Erbkrieg. Karl X. Gustav fand in dem auch mit ihm blutsverwandten Friedrich Wilhelm von Brandenburg, dem Großen Kurfürsten, einen Verbündeten. Die vereinigte schwedisch-brandenburgische Armee besiegte in einer blutigen Schlacht bei Warschau das polnische Heer. König Johann II. Kasimir beschloß nun, sich mit einem Einfall in Preußen zu rächen. Sein durch Litauer und Krimtataren auf 20000 Mann verstärktes Heer griff die nur halb so große schwedisch-brandenburgische Armee auf masurischem Gebiet an. Es kam am St. Michaelistag 1656 bei Prostken zu einem für die Verbündeten vernichtenden Kampf, in dem sie 7000 Tote und in Gefangenschaft Geratene verloren. Nun hatten die Tataren freie Bahn: Unter ihrem Hetman Zupanskazyaga zogen sie mordend und brennend durch das Land, um sich ihre Kriegsbeute zu holen. Statt Sold waren Güter und Menschen im eroberten Gebiet der Lohn! Obgleich die Krimtataren keinen Säbel besaßen, waren ihre Angriffe mit Pfeil und Bogen und mit dem Maslack, einem mit einem Holzgriff versehenen spitzen Knochen, von unvorstellbarer Grausamkeit. Eine alte Chronik berichtet: "Verheerend ergossen sich die wilden Sieger über das Land. Der mächtige Feuerschein brennender Dörfer trug die Kunde weiter. Weder Säuglinge noch Greise wurden von den Horden verschont. Jünglinge und Männer, Mädchen und Frauen wurden wie eine große Herde Schafe vorwärts getrieben und in die Sklaverei abgeführt. Eine alte Angerburger Chronik berichtet: "Es ist nicht zu beschreiben, was vor Jammer vorgegangen. Die Christenkinder sind von den Tataren weggeführt, beschnitten, die Männer verkauft, auf die Galeeren geschmiedet, die Weiber zur viehischen Unzucht behalten worden." Und der Chronist beschreibt weiter, wie die wilden Scharen Angerburg eroberten. Zwar hatte der Befehlshaber der preußischen Truppen, Graf Waldeck, vor der Stadt einige Verschanzungen aufwerfen, die Brücke über die Angerapp abbrechen und eine Wagenburg errichten lassen. Aber ein Bauer wurde von den Tataren so gemartert, daß er die Furt durch den Fluß verriet und dadurch die Belagerer in die Stadt eindringen konnten und alle Bewohner bis auf diejenigen, die sich in das Schloß gerettet hatten, ermordet oder verschleppt wurden. Die Stadt wurde in Brand gesetzt, nur die Kirche blieb verschont, obgleich ein polnischer Pfarrer auch sie anstecken wollte. Ein Bürger erschoß ihn, aber der Angerburger wurde von den Tataren erschlagen. In der Kirche zeigte man noch lange an der Tür zur Sakristei die Spur eines gewaltigen Hiebes, den ein Tatar ausgeführt hatte. Die Bürger, die sich in das Schloß gerettet hatten, ereilte dann vier Monate später das Schicksal, als erneut ein Haufen Polen und Tataren in die Stadt eindrang und sie in Brand setzte. Man zählte 200 erschlagene Bürger, deren Leichname von Schweinen und Hunden gefressen wurden, weil niemand da war, der ihnen ein Grab bereitete. Die Kirche wurde geplündert, blieb aber erhalten. So erzählt die Angerburger Chronik

Nicht nur in den Städten, auch in den masurischen Dörfern wurde gebrandschatzt, gemordet, geschändet. Wie in Kallinowen, wo 800 Personen getötet, die übrigen verschleppt wurden. Pfarrer Baranowski gelang es, mit Frau und Kind zu fliehen. Der quälende Hunger trieb ihn aber in das Pfarrhaus von Czychen, und hier ereilte ihn und seine Familie das Schicksal, als die Tataren plötzlich eindrangen. Der zweijährige Sohn wurde gegen einen Baum geschleudert, als er beim Abtransport der Gefangenen lästig wurde. Das Kind schien tot, aber es wurde von flüchtenden Menschen gefunden und nach Lyck gebracht und blieb am Leben. Sein Vater aber fand ein furchtbares Schicksal: Er wurde Galeerenskalve und ist auf Kreta elend verstorben. Sein Nachfolger wurde der Kallinower Lehrer Zaborovius, der bei der Verschleppung den Tataren entkam, indem er auf einem Binsenbündel durch den Dnjepr schwamm und nach mühevoller Wanderung sein Heimatdorf erreichte.

Überall hat sich in den von den Tataren überfallenen Gegenden Ostdeutschlands bis in unsere Zeit mündlich Übermitteltes aus jenen grausamen Jahren lebendig erhalten, wie in Klaussen. Unter polnischer Führung waren die Tataren in die Kirche eingedrungen und wollten sie ausrauben. Als der Pfarrer ihnen aber keine Kostbarkeiten geben konnte, denn es war eine arme Gemeinde, wollten sie ihn töten und das Gotteshaus in Brand stecken. Aber da wies der Pfarrer auf einen Stein vor der Kirche, der Spuren des Teufels zeigte, den man im Jahre 1640 hier vertrieben hatte - deshalb sei es eine heilige Kirche und Gott würde jede böse Tat bitter rächen. Daraufhin flüchteten die abergläubischen Marodeure eiligst aus Klaussen - die Kirche war gerettet!

Eine besonders listige Tat soll den Frauen von Lyck gelungen sein, wie der Name Tatarensee beweist. Zwar war die Stadt besonders schwer betroffen, sie wurde geplündert und vollkommen zerstört, aber ein Teil der Bevölkerung hatte sich auf die Burg retten können, die Oberst von Auer mit seinem Dragoner-Regiment, das er auf eigene Kosten aufgestellt hatte, erfolgreich verteidigen konnte. Darunter waren auch Frauen, deren Männer von den Tataren gefangengenommen, an die Schweife ihrer Pferde gebunden und auf eine Anhöhe geschleppt worden waren. Die Frauen schlichen sich in das Lager der Tataren und machten die Wächter mit Bärenfang betrunken. Als diese in tiefen Schlaf fielen, befreiten die Frauen ihre Männer, und gemeinsam warfen sie die Berauschten in einen moorigen See, der den Namen "Tatarensee" bis in unsere Tage hinein trug. Wie überhaupt so manche landschaftlichen Merkmale in den damals verwüsteten Gebieten die Erinnerung wach hielten. Ob Tatarenberg oder Schwedenschanze: Es gab noch viele Zeugen in Ostdeutschland aus jener furchtbaren Zeit, die mit dem Fortzug der "Tattern" 1660 nach dem Frieden von Oliva, noch lange keine glückliche war, denn die Pest löschte nun manches Leben aus, das sich über die Tatarenzeit gerettet hatte. 80000 Menschen sind damals in Ostdeutschland verhungert oder an der Pest verstorben - ein Aderlaß, von dem sich das Land erst langsam erholte, als neue Siedler die "wüst" gewordenen Höfe und Güter übernahmen.

Es gibt wenig schriftlich Überliefertes aus jener alten Zeit, wie die Briefe der mit ihren Kindern in die Sklaverei verschleppten Gräfin Lehndorff aus Konstantinopel, in denen sie um Lösegeld bat. Das wohl aufschlußreichste, zeitgenössische Dokument ist das Tatarenlied des Pfarrers Johann Molitor aus Groß Rosinko. Es hat in erschütternder Weise die Grausamkeiten festgehalten, die auch in seinem Kirchspiel verübt wurden. Er selber konnte sich durch Flucht in die Worguller Sümpfe retten, wo er sich von Wurzeln und Baumrinde ernährte. Zurückgekehrt in seine Gemeinde schrieb er das Tatarenlied in masurischer Sprache. Es wurde von dem Angerburger Rektor Pisanski in das Deutsche übertragen. Erstmals wurde das 17 Strophen umfassende Lied im Mai des Jahres 1662 bei dem preußischen Friedensdankfest in den Kirchen an der Grenze zu Polen gesungen. Es wurde in das masurische Gesangbuch aufgenommen und bis in die Neuzeit hinein an Gedenktagen gesungen. Hans-Egon von Skopnik hat sich sehr mit der Geschichte dieses Liedes und seines Schöpfers befaßt, der auf einem Gemälde abgebildet wurde - verewigt, so glaubte man, aber das Bild ist aus der Kirche von Großrosen spurlos verschwunden. In den Bränden und Kämpfen in Ostdeutschland, in unserer Zeit, wo sich - was unvorstellbar schien - wiederholte, was im Tatarenlied beklagt wird: "... in ein fernes Land wird man dich vertreiben ..."

Fotos: Gegner im Schwedisch-Polnischen Erbkrieg: Weil der Große Kurfürst (links) sich auf die Seite des Schwedenkönigs Karl X. Gustav (Mitte) geschlagen hatte, fiel der Polenkönig Johann II. Kasimir (rechts) mit seinem durch Litauer und Krimtataren verstärkten Heer in Preußen ein. (Archiv)
 
     
     
 
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