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Es gibt eine Stunde am Tage, die sollte man - wenn es die Pflichten irgend erlauben - für sich nutzen. Es ist die Stunde zwischen dem beginnenden Schwinden des Tageslichts und der Dunkelheit.
Dämmerstunde nennt man sie, in Ostdeutschland einst "Uhlenflucht". Auch goldene Stunde oder blaue Stunde, weil die länger werdenden Schatten dann ein feines bläuliches Licht annehmen, das allmählich alle Konturen verwischt, alle Gegenstände einhüllt, wie mit unsichtbare r Hand weggerückt. Es bleibt nur das Wesentliche, die Gedanken. Man kann seiner Seele keinen besseren Dienst erweisen, als sich dieser Stunde hinzugeben.
Früher gab es diese Stunde ganz selbstverständlich. Die Tagesarbeit war beendet. Es tat den Augen gut, das Tageslicht schwinden zu sehen. Man ging seinen Gedanken und Tageserlebnissen nach, schon allein, weil das Anzünden der Lampen umständlicher war, als wenn man nur auf den Schalter zu drücken braucht, um das Neonlicht aufleuchten zu lassen. Man schaltet es heute schon vor der vollständigen Dunkelheit ein, um die Augen nicht anzustrengen, verwischt so die Tageszeiten und jagt die blaue Stunde fort.
Aber der Mensch braucht eine ruhige Stunde am Tage, um sich auf sich selbst zu besinnen, um den Tag noch einmal an sich vorbeiziehen zu lassen mit allem Gewinn und Verlust, mit allem Guten und Unguten, was er gebracht hat. Schön, wenn man dann einen Menschen hat, mit dem man alles besprechen kann. Auch wenn es Spannungen in der Gemeinsamkeit gibt. In dieser Stunde läßt es sich viel leichter reden. Man versteht sich und die Spannungen werden nicht von einem Tag in den anderen mitgenommen und manifestiert. Die blaue Stunde dient der seelischen Hygiene, dem Ruhefinden und der Reifung.
Waltraud Nawratil: Bäume am Feldrand (Aquarell) aus dem besprochenen Ban |
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