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Der Junge stand vor ihr, trotzig, den Blick nach unten. Die Frau war bis an den Haaransatz errötet, nur mühsam beherrschte sie sich. "Schämst du dich gar nicht, aus fremden Gärten Blumen zu stehlen? Was meinst du, für wen haben wir die Blumen gepflanzt? Für dich, he? Bloß um andere Leute zu ärgern, tust du das, so seid ihr alle!"
Der Junge hob mit einem Ruck den Kopf. "Die Blumen sind gar nicht aus Ihrem Garten. Sie sind durch den Zaun gewachsen. Da standen sie!" Er wies auf den Straßenrand. "Ich hätte sie auch nicht fortgeworfen. Ich wollte sie meiner Mutter schenken ..."
"So, deiner Mutter! Glaubst du denn, daß sie sich über gestohlene Blumen gefreut hätte?" - "Sie sind nicht gestohlen. Was auf der Straße wächst, darf man pflücken." - "Sie sind durch den Zaun gewachsen ..." Die Stimme der Frau wurde unsicher. "Von meinem Beet ..." Sie brach ab, wandte sich zum Gehen. Die Vergißmeinnicht in ihrer Hand sahen welk aus.
"Ich habe nicht gestohlen!" sagte der Junge, und seine Augen wurden klein vor Zorn. "Ach, hör auf. Mit dir streite ich mich nicht. Hier hast du die Blumen. Nimm sie bloß mit."
"Jetzt will ich nicht mehr." Der Junge warf seine Haare mit einem Ruck zurück. "Warum nicht? Du wolltest sie doch deiner Mutter zum Muttertag schenken." - "Wollte ich, ja! Bißchen Freude hat meine Mutter auch verdienst."
"Und dein Taschengeld ? Sparen ist wohl nicht drin bei dir?" - "Sparen Sie mal bei zehn Euro im Monat. Und dafür noch Schulsachen kaufen. So dicke haben wir es nicht. So mit Haus und Garten wie Sie. Meine Mutter arbeitet bis abends um sechs. Da ist sie ganz schön geschlaucht, wenn sie nach Hause kommt."
Die Frau sah auf die welkenden Blumen in ihrer Hand. Sie waren verstaubt und grau. "Na, dann komm rein. Pflück dir einen Strauß für deine Mutter. Kannst auch von den roten Tulpen nehmen, paß aber auf. Solch ein Garten macht nämlich ganz schön Arbeit." Sie ging zur Pforte und öffnete sie.
Der Junge stand noch immer da, die Hände in den Taschen der alten Jeans. "Los, nun mach zu!" sagte die Frau ungeduldig. Jeden Augenblick konnte ihr Mann nach Hause kommen. Dann fiel ihr ein, daß er vorhin angerufen hatte. Er käme später ... er hätte noch etwas zu besorgen ... sie wüßte doch, morgen sei Muttertag ... Binchen und er wollten etwas sehr Schönes für die liebe Mutti aussuchen ... ganz große Überraschung, ja eine Überraschung ...
"Warte, ich pflücke dir die Blumen", sagte die Frau, und ihre Stimme war auf einmal ruhig und gut. Sie ging von Beet zu Beet, und der Strauß in ihrer Hand wuchs.
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