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Sonja stand vor dem großen Spiegel und probierte den neuen roten Hut auf. Sie setzte ihn sofort wieder ab, um nach dem gelben Strohgeflochtenen zu greifen. Danach kam dann der Dunkelblaue an die Reihe, der mit dem breiten weißen Band. Sie erprobte nicht nur die Hüte sondern auch ihr Lächeln. Sie bleckte ihre weißen Zähne, um dann arrogant die Augenbrauen in die Höhe zu ziehen. So hatte sie es im Kino gesehen und sie fand es total nachahmenswert.
Jetzt drehte sie sich halb zur Tür und rief laut nach ihrer Mutter.
"Wo brennt ett denn, mien Schoapke?"
"Ach Muttke, du most mi helpe. Welkem Hoot sull öck oppsette, wenn öck to em Treffe fahr, dem Rode oder dem Jäle, oder vleicht doch eher dem Dunkelblaue? Weißt, die anderen werden ja auch alle ausgeputzt ankommen. Wie sie wohl alle aussehen werden? Ei, und dann erst die Jungens? Schließlich sind wir ja alle älter geworden."
"Ach, mien Duwke", sagte die Mutter, "du kannst die doch e Koahlepott oppem Kopp sette, du sittst doch ömmer scheen ut."
"Ob die mich wohl erkennen werden?"
Diese Vorgeschichte gehörte zu dem in zwei Wochen stattfindenden Heimattreffen. Diese Begegnungen waren zwar nichts Neues mehr, aber Sonja war noch nie dabei gewesen, da war ein wenig Aufregung erlaubt, zumal man aus Thüringen kam.
Sie setzte dann doch den dunkelblauen Hut auf, obwohl ihr Sinn mehr dem Roten zugetan war. Aber blau wirkte eleganter. Sie vergaß auch nicht die Handschuhe und die passende Tasche und griff nach ihrem Koffer, den sie extra erworben hatte. "Nu beeil dich bloß", drängelte die Mutter, "der Zug wird nicht auf dich warten. Amesier dich man wenigstens, wenn du schon das viele scheene Jäld ausjiebst."
Es war ein kleines Ereignis im Dorf, als man Sonja mit dem Koffer zum Bahnhof gehen sah. Wo sie nur hinfahren würde, wo sie doch keinen Menschen mehr hatten, wie sie immer sagten? Nur Hilpert wußte mehr. Sie hatte ihn sogar mitnehmen wollen, ein wenig auch zu ihrem Schutz. Aber es war ja ein Treffen ihrer Heimat Ostdeutschland . Das war immer so ein Thema, bei dem er unwillkürlich ein schlechtes Gewissen bekam. Er konnte ja aber auch nicht dafür, daß 1945 nur diese eine Provinz die Unbarmherzigkeit der Welt in seiner schlimmsten Form, daß man aus der Heimat vertrieben wurde, erleiden mußte. Er hatte ihr ja schon die Seine und sein ganzes Herz angetragen, aber sie machte immer so, als ob sie auf jemand wartete.
Nun saß Sonja im Zug, hatte ihre Stullen verschmaust und ihr Zielbahnhof rückte näher. Ihr Herz hopste ein wenig vor Glück und Aufregung. Dank der Skizze ihrer Freundin Fita fand sie auch das Hotel "Zum Regenbogen". Erbarmung, sah das fein aus, war ja überhaupt nicht zu vergleichen mit Schneidermanns Schloß-Hotel mit Gartenwirtschaft, was sie bisher auch für ganz prächtig gehalten hatte. Herjehchen, wie sollte sie da aber bloß mit ihrem Koffer durch die Drehtür kommen? Nach dem zweiten Ansatz gelang es jedoch ganz gut. Der Hut war dabei etwas verrutscht, aber energisch gab sie ihm einen Schubs, daß er fast auf dem Hinterkopf saß. O goll, o goll, war ihr nächster Gedanke, was saßen da bloß für viele Menschen rum und begludderten sie ganz ungeniert, hatten die alle nichts zu tun? Wäre sie doch bloß zu Hause geblieben.
Wie Sonja nun so da stand und überlegte, an wen sie sich wenden mußte, sprang die ganze Meute auf, stürmte auf sie zu, sie wurde umarmt, gedrückt und geknutscht. Sonja war vor Rührung den Tränen nahe. Sie wurde erwartet, welch ein gutes Gefühl ...
Aber da drehte sich bereits wieder die Hoteltür und ein eleganter Sechziger sah sich suchend um. Er wurde gleich erkannt, denn es war doch Eberwalds Otto. Er kam fast jedes Jahr und dieses Mal sogar aus Toronto! Bloß zum Treffen, bloß so? Sonja staunte. Dat sull de Ottke sönd, dachte sie, de Ottke mött de affgekaute Fingernägel on dem blaue Tinteduume? Ehe sie sich versah, hatte Otto sie in den Arm genommen, drückte ihr einen Kuß auf, um dann laut zu rufen: "Böst du nicht dat kleene Schnoddernäske von Jöhlkes hindrem Barj?" Sonja war erbost, was erlaubte sich dieser Frechste und oft Faulste aus der ehemaligen Klasse? Sie, ein Schnoddernas chen? Sie wollte ihm eine entsprechende Antwort geben, aber es war eine etwas peinliche Stille eingetreten, die sich aber ganz schnell in ein großes Gelächter auflöste. Ohne zu Begreifen, verzog nun aber auch Sonja ihren Mund.
Abends dann, später, saß per Zufall Otto neben ihr. Sie schielte nach seinen Fingernägeln. Aber aus blütenweißen Manschetten sahen gepflegte Hände und Nägel hervor. Sonja fühlte sich hier völlig an- und aufgenommen von der Gemeinschaft, daß sie doch wissen wollte, was er mit dem Schnoddernas chen gemeint hatte. "Ach", meinte Otto, "das ist mir man bloß vor lauter Freude so rausgerutscht. Aber wir haben dich doch alle so genannt, wußtest du das etwa nicht?" - "Aber warum bloß", staunte Sonja. Otto grinste unverschämt, breit und genüßlich, so wie sie ihn immer in Erinnerung gehabt hatte. "Na Mänsch, Sonja, du häst dem Noame gekräje, weil du so niegierig wie e kleene Katt äwerall öm Weeg stundst. Dem kleene Mulke hattst dabie oape, undre Näs meistens twe Lichterkes, de länger wurde, on paßd op, dat die nuscht entging. Aber nur ärger dich man nicht, ich hab mich doch so gefreut, daß du auch gekommen bist. Bist e hübsche Marjell, was du damals ja auch warst. Bist verheiratet?"
So gab es ein Schabbern und Erzählen, der Bärenfang und das Bier schmeckte, dazwischen wurde gesungen und getanzt, daß die Flicker flogen, wie man zu Hause immer gesagt hatte.
Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erzählen. Sonja mußte ihrer Mutter alles haarklein berichten. Es kommt doch nicht über die Sprache, das Eingebundensein zu Menschen die man kennt, deren Gedanken in ihrer Liebe zur Heimat alle gleich und ähnlich sind.
Sonja entschied sich für den eleganten dunkelblauen Hut |
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