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Der Rohling

 
     
 
Seit drei Monaten hat Elsa einen neuen Nachbarn. Einen stämmigen Junggesellen, der tagsüber die Maurerkelle schwingt und an den Wochenenden stundenlang an seinem Motorrad, einem wahren Monstrum von Maschine, herumbastelt. Auf ein gutnachbarliches Verhältnis scheint er absolut keinen Wert zu legen. Wenn er denn schon mal den Mund aufmacht, dann nur, um ein barsches "Tach!" von sich zu geben. Dabei stapft er mit solcher Brachialgewalt die Treppe hoch, daß die altersschwachen Holzstufen nur so vor sich hin ächzen.

Elsa geht ihrem Wohnungsnachbarn tunlichst aus dem Weg. Ein ungehobelter Klotz, so lautet ihr Urteil, ohne Takt und Feingefühl. Voller Wehmut denkt sie an seinen Vormieter zurück, einen pensionierten Studienrat, mit dem zu plaudern ein wahres Vergnügen war. An einer Dame vorbeizulaufen, ohne dem Gruß ein paar nette, verbindliche Worte hinzuzufügen, wäre diesem Kavalier alter Schule niemals in den Sinn gekommen. Jammerschade, daß seine Altersbeschwerde
n ihm schließlich doch keine andere Wahl ließen, als ins hiesige Seniorenheim überzusiedeln. Einen solchen Schritt hat Elsa trotz ihrer 75 Lenze bisher noch nicht in Erwägung gezogen. Rüstig wie sie ist, hält sie ihre kleine Wohnung tadellos in Schuß und genießt die Freiheit, in ihrer eigenen Küche schalten und walten zu können. Lediglich ihr Rheuma vergällt ihr hin und wieder ein wenig die Lebensfreude. Für Stunden oder Tage fühlt Elsa sich dann völlig steif in den Gelenken.

Auch an diesem trüben Sonnabend kann sie ihre Einkäufe nur unter Schmerzen erledigen. Vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend, in der Hand einen schweren Korb mit Lebensmitteln, so tritt sie langsam den Heimweg an. Schon von weitem sieht sie den unliebsamen Nachbarn an seinem Motorrad herumwerkeln. Was es da ständig zu putzen und reparieren gibt, ist ihr ein Rätsel. Bloß gut, daß der junge Mann so angestrengt bei der Arbeit ist, daß Elsa unbemerkt ins Haus schlüpfen kann.

Sie hat den ersten Stock noch nicht erreicht, als die Haustür aufgestoßen wird und jemand eiligen Schrittes die Treppe heraufkommt. Elsa braucht gar nicht erst übers Geländer zu äugen, um zu wissen, wer das ist. Einen solch stampfenden Gang hat in diesem Haus nur ein Bewohner! Sicher hat der Unglücksmensch irgendeinen Putzlappen oder Schraubenzieher in seiner Wohnung liegenlassen, den er sich jetzt holen will.

Unwillkürlich beschleunigt Elsa ihre Tempo. Mit einer Hand das Geländer umklammernd, sucht sie hastig die restlichen Stufen zu erklimmen. Immerhin - sie hat zwei Treppen Vorsprung. Vielleicht gelingt es ihr ja, das Zwischenpodest zu erreichen, ehe ihr Nachbar hinter ihr steht und ungeduldig schnaufend darauf wartet, daß diese langsame alte Frau ihm auf der schmalen Treppe nicht länger den Weg versperrt. Doch was Elsa sonst mit Leichtigkeit bewältigt, das wird an diesem Tag zur Tortur. So sehr sie sich auch bemüht, eine schnellere Gangart einzulegen - die rheumasteifen Gelenke lassen nur ein unbeholfenes, stöckeriges Vorwärtskommen zu.

Möglich, daß es ihr unsicheres Auftreten ist; möglich auch, daß die vom morgendlichen Regenschauer noch feuchten Straßen ihre Absätze glatt und rutschig gemacht haben: Auf jeden Fall verliert Elsa plötzlich den Boden unter den Füßen. Mit einer Hand am Geländer hängend, stürzt sie vorn-über aufs höhergelegene Treppenpodest. Hinter sich hört sie erschrockenes Keuchen. Ein Geräusch, das Bitterkeit in ihr hervorruft. Schließlich ist dieser Rohling - wenn auch indirekt - schuld an ihrem "Fehltritt". Was wird er nun tun? Wird er ihr sein gewohntes "Tach!" entgegenschleudern und dann einfach über sie hinwegsteigen?

Elsa versucht sich aufzurappeln, aber da greift schon eine kräftige Hand nach ihrer Schulter: "Warten Sie, ich helfe Ihnen!" Ganz behutsam stellt der junge Mann sie auf die Füße. Elsa macht einen Gehversuch, doch der Schmerz in ihrem rechten Knöchel läßt sie jäh innehalten. "Es geht nicht ..." Nur mit Mühe kann Elsa die Tränen zurückhalten. In diesem kritischen Moment zeigt ihr vielgeschmähter Nachbar Umsicht und Nervenstärke. "Das ham wir gleich", meint er aufmunternd. "Halten Sie sich nur schön am Geländer fest. Alles andere mach ich dann schon."

Mit einer Schnelligkeit, die sie dem stämmigen Hünen niemals zugetraut hätte, sammelt dieser den verstreuten Inhalt ihres Korbes ein, der Elsa beim Sturz aus der Hand geglitten ist. Nachdem er sich den passenden Schlüssel hat zeigen lassen, öffnet er die Wohnungstür, stellt den Korb in die Diele und steht in Null Komma nichts wieder vor Elsa. "So, dann woll n wir mal. Legen Sie einfach den Arm um meinen Hals." Elsa fühlt sich sanft emporgehoben. "Ich tu Ihnen doch nicht weh - oder?" "Nicht die Spur", erwidert Elsa leise, und Dankbarkeit erfüllt ihr Herz, daß sie einen Nachbarn hat, der zwar keine schönen Reden halten kann, der aber zupackt, wenn s drauf ankommt.

Gemeinsam warten sie in Elsas Wohnung das Eintreffen des Doktors ab, der glücklicherweise nur eine Verstauchung diagnostiziert. "Halb so schlimm. Kühle Umschläge auf den Bluterguß und das Bein immer schön ruhig lagern, dann sind Sie in ein paar Tagen wieder auf dem Damm. Gut, daß Ihnen der junge Mann hier ein wenig zur Seite steht. Nicht jeder hat soviel Glück mit seinen Nachbarn ..."

Während der so Gelobte verlegen auf seine großen Schuhe hinunterblickt, muß Elsa schlucken. Rohling hatte sie ihn genannt ... Daß dieses Wort noch eine ganz andere Bedeutung hat, das wird ihr erst in diesem Moment bewußt. Rohling - der u
 
     
     
 
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