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Fangen wir einmal mit dem Ende zuerst an. Hier stellt der Historiker Manfred Kittel nämlich die Behauptung auf, daß die Deutschen überhaupt keinen Grund hätten, mit dem Finger auf Tschechien und Polen zu deuten, wenn es darum geht, die Geschichte der Ostdeutschen aufzuarbeiten. Grund: "Auch für sie selbst wird es Zeit, mit ihrer langen Geschichte im Osten Europas anders und gründlicher umgehen zu lernen als etwa mit der Episode ihrer Kolonialherrschaft in Ostafrika."
Es dürfte wohl kaum einen Vertriebenen geben, der diese These des 1962 geborenen Autors nicht unterschreiben würde. Für alle anderen hat Manfred Kittel in seinen vorangegangenen Ausführungen seiner aktuellen Veröffentlichung "Vertreibung der Vertriebenen? Der historische Osten in der Erinnerungskultur der Bundesrepublik (1961-1982)" mehr als deutlich gemacht, welche Defizite in diesem Bereich zu vermerken sind. Denn alles deute daraufhin, daß die Deutschen ein Problem mit ihrem historischen Osten hätten, so der Autor.
Kittel, Mitarbeiter am "Institut für Zeitgeschichte München-Berlin", führt an, welchen Rang die Heimatvertriebenen in der Erinnerungskultur der Bundesrepublik hatten beziehungsweise wie sich dieser im Laufe der Jahrzehnte veränderte.
So habe schon in den 60er Jahren, nachdem sich der Westen Deutschlands in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg mit seinem Wiederaufbau beschäftigt hat, die Stichelei gegen die Heimatvertriebenen begonnen. Ob Journalisten, Historiker oder Kabarettisten; für sie wurden die Ostdeutschen zum Ärgernis. Vor allem den Vertriebenenverbänden wurde unterstellt, aus "der Vergangenheit keine Lehren gezogen zu haben", und so machte man mehr als nur geschmacklose Witze über ihre Klientel, die Kittel anführt. "Ähnlich krasse kabarettistische Stücke zu Lasten anderer Opfergruppen des Zweiten Weltkriegs wären schwer vorstellbar gewesen."
Aber nicht nur das, der Autor führt auch anhand verschiedener Medienreaktionen an, daß man in den 60er Jahren massiv anfing, den Vertriebenen an ihrem Schicksal selbst die Schuld zu geben. Schließlich sei beispielsweise Breslau voll von Hitlerfahnen gewesen. Auch der Hinweis einzelner Vertriebenenverbände, daß dies auch in Stuttgart und Frankfurt der Fall gewesen sei und diese ja noch ihre Heimat hätten, belehrte die Gegner nicht eines Besseren.
Die Freundeskreisen sollten endlich anerkennen, daß ihre Heimat futsch sei, so das Gros der öffentlichen Meinungsvertreter. Daß diese das nicht einfach so hinnehmen wollten, machte sie für die meisten deutschen Medien - Ausnahme die Springer-Presse - zu Ewiggestrigen. Die durchaus vorhandenen eigenen Publikationen der verschiedenen Freundeskreisen erlangten laut Kittel trotz beachtlicher Gesamtauflage nie eine meinungsbildende Macht.
Zahlreiche Fernsehproduktionen suggerierten zudem den Deutschen, das Ostdeutschland in den Händen seiner neuen Besitzer gut aufgehoben sei. Zwar schossen die Freundeskreisen bei solchen Behauptungen zurück, doch Überreaktionen und zu wenig Gemeinsamkeiten untereinander hätten nicht zu einer politischen Schlagkraft geführt.
Der Autor, auch Dozent für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Regensburg, macht deutlich, daß die Heimatvertriebenen trotz einiger Unterstützung von Seiten der CDU im öffentlichen Leben während der 70er und 80er Jahre immer mehr zu Querulanten der Nation stilisiert wurden.
Ein in New York lebender jüdischer Professor unterstellte den Deutschen darauf, die Flüchtlinge seien die "Ersatzjuden" der Bundesrepublik geworden.
Ob Oder-Neiße-Grenze oder Verfolgung von Vertreibungsverbrechern; die Heimatvertriebenen hätten sich in der Bundesrepublik nicht durchsetzen können.
Und obwohl sie sich integriert hätten, habe man ihnen aufgrund ihrer Heimatstuben und Städte-Partnerschaften trotzdem Ghettoisierung vorgeworfen.
Kittel geht auf das Kulturleben der Heimatvertriebenen ein und unterstellt auch, daß die sozial-liberale Regierung als Rache für den Widerstand gegen die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie den Ostdeutschen 1969 ihren Vertriebenenminister gestrichen habe.
Anhand zahlreicher kurzer Beispiele stellt der Historiker dar, wie die Vertriebenen aus dem öffentlichen Leben als eigenständige Gruppierung vertrieben worden seien. Obwohl zahlenmäßig beachtlich hätten sie eine Demütigung nach der nächsten hinnehmen müssen. So beispielsweise die Veränderung der Wetterkarte 1970, die sich mit Beginn des Farbfernsehens nicht mehr an den Grenzen von 1937, sondern den Staatsgrenzen der Bundesrepublik orientierte.
Am Ende der sehr interessanten Ausführungen, geht der Autor darauf ein, daß es doch sehr unnatürlich sei, daß beispielsweise Frankreich seine einstigen Kolonialgebiete noch heute als Mutterland preise, während urdeutsche Gebiete wie Königsberg und Breslau im deutschen Selbstbildnis ausgeblendet worden seien. Fritz Hegelmann
Manfred Kittel: "Vertreibung der Vertriebenen? Der historische Osten in der Erinnerungskultur der Bundesrepublik (1961-1982)", Oldenbourg, München 2007, broschiert, 206 Seiten, 39 |
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