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Die Experimentelle Phylogenetik

 
     
 
Aus den soeben gekennzeichneten Ergebnissen der Erforschung des formalen Phylogeneseverlaufes geht zwar hervor, daß bestimmte Regelhaftigkeiten erkennbar sind, die vielfach zur Anagenese, zu dem Auftreten gehäufter und verbesserter Anpassungen fuhren, die aber allein keine direkte Aussage über die Kausalität dieser Erscheinung zu machen vermögen. Ja, sie haben zu Fehlspekulationen verführt (teleologischer Charakter der Evolution, spezielle Orthogenesefaktoren, saltative Sprünge von Typ zu Typ). Die experimentelle Phylogenetik prüft zwar ihre Ergebnisse, soweit dies möglich ist, an fossilen Urkundenmaterialien nach, sie überträgt im wesentlichen aber die von ihr am lebendigen Organismus, Tieren oder Pflanzen, gewonnenen Einblicke in die Kausalität der Wandlungserscheinungen, die die heutigen Organismen zeigen, im Sinne eines Aktualismus auf die Gesamtphylogenie. Zunächst haben die Experimente das ungemein wichtige Resultat gezeitigt, daß sich kein Anhaltspunkt finden ließ für die vielumstrittene laniarckistischeVererbung, d. h.: was den Körper im Laufe seines individuellen Lebens durch Einwirkung irgendwelcher Art verändert, übertrüge sich im gleichen Sinne auf die Keimzellen, so daß bei den Nachkommen diese Änderung des Soma wiederum in gleicher Weise oder verstärkt erschiene, auch wenn die betreffende körperliche Einwirkung nicht mehr vorhanden ist. Eine solche Vererbung erworbener Eigenschaften hat sich nicht beweisen lassen und spielt auf alle Fälle keine Rolle in der phylogenetischen Wandlungsgeschichte der Organismen. Dar to i n, der ja noch nichts von Mendel und über den Vererbungsmechanismus wußte und auch noch keinen Einblick in die Grundlagen der Variabilität der Organismen besitzen konnte, hatte noch mit der Vererbung erworbener Eigenschaften gerechnet. Wir können die Vererbung erworbener Eigenschaften heute aber ebensowenig akzeptieren und als Evolutionsfaktor betrachten, wie die autogenetischen Faktoren (Orthogenese usw.).

Die Phylogenie muß aber primär mit Veränderungen des Erbgutes rechnen. Das gilt natürlich genau so für die Pflanzen und Tiere wie für den Menschen. Solche erblichen Änderungen nennen wir Mutationen (Humangenetik), ein Wort, das iibrigens schon von Darwin gebraucht worden ist. Die Mutabilität ist der phylogenetische Urprozeß. Sie beschafft das elementare Evolutionsmaterial. Es können durch das Mutieren Änderungen von ganz unterschiedlichen Ausmaßen entstehen; aber nur die Mutationen mit geringsten bis sehr geringen Effekten schädigen den Organismus vielfach nicht.

Es hat sich gezeigt, daß die Mutationen kleinen Ausmaßes, nicht die Sprünge (Saltationen, Großmutationen von vielleicht drastischer Auswirkung), für die Phylogenie das Ausgangsmaterial bilden. Trotz sehr geringer Mutationshäufigkeit (im Durchschnitt 1 : 100 000), trotz meist größerer oder kleinerer Schädigungen vieler Mutationen gibt es ausreichend auch positive Mutationen. Die Phylogenie (seit der Erreichung des Zellenniveaus sind vielleicht 3.1o9 Jahre vergangen) ist genügend lang, um mit den Bausteinen der Evolution, den positiven Mutationen also, der Organismengeschichte das Material zu liefern. Die Mutationen zeigen jedoch mit ihren Wirkungen wohl bestimmte Begrenzungen, aber sie zeigen keiner 1 ei A u s -r i ch t u n g auf bestimmte Ziele, meistens sind sie nicht adaptiv, d. h. nicht auf die Verbesserung schon bestehender Anpassungen oder Erzeugung neuer Anpassungen gerichtet. Die Phylogenie ist aber durch Anagenese auf höhere Zustände und Organisationen und durch Erhöhung der Anpassungen gekennzeichnet.

Darwin wußte dies bereits grundsätzlich: Er rechnete theoretisch ausdrücklich nur mit erblichen Varianten (d. h. Mutationen), er eliminierte die telisch-aktiven Faktoren mit seiner S e 1 e k -t i o n s t h e o r i e (Theorie der natürlichen Auslese), die das jeweils Geeignete erfaßt und fördert. Aus der wie M alt h u s schon 1798 betont hatte ständigen Überproduktion von Nachkommen und der durchschnittlichen Konstanz der Populationsgrößen der Mensch macht hier nur scheinbar eine Ausnahme ergibt sich das Ringen ums D a s e i n, in dem dann statistisch die Geeignetsten für die jeweilige Umweltsituation die größte Überlebenschance haben. Es wird also aus dem nicht auf irgend einen Zweck gezieltem, relativ richtungslosen Mutationsbestand ausgewählt. Aus diesem Ursachengefüge ergibt sich aber eine langsame Verschiebung der Merkmalskomplexe der Rassen, Arten allgemein der Typen . Diese Verschiebung aber steigert die Anpassungsdifferenzierung. Sie erfolgt gleitend entsprechend den vital möglichen Mutationen, mikromutativ also, wenn auch je nach Situation in verschiedenen Geschwindigkeiten. Es bedarf etwa 200000 bis 500000 Jahre, bis eine Art in eine andere umgewandelt wird. Das gilt auch für die Hominiden, zumindest vor der Erreichung des Tier-Mensch-Übergangsfeldes und des euhomininen Niveaus. Die offensichtliche Richtung aber, welche die Evolution der Organismen und auch der einzelnen Gruppen zeigen, wird im ganzen durch die Selektion mechanisch hervorgebracht. Die Selektion kann vielfach längere Zeit hindurch in einer bestimmten Richtung wirken. Es werden die Mutanten positiv erfaßt, die in der betreffenden Richtung statistisch anfallen so kommt das Bild eines orthogenetischen Ablaufes zustande. Wir sprechen hier von 0 r t h o s e 1 e k t i o n. Man kann sagen, daß die Paläontologie dieses Phänomen schon seit langem durch eine Fülle von Beispielen belegen konnte und daß stets neues Material anfällt nur war früher der Mechanismus der Orthoselektion nicht so kausal erfaßt worden. Wir sehen aus dieser knappen Darstellung der Evolutionsursachen, daß Darwin mit der Mutations-Selektionstheorie doch recht behalten hat (v. Wettstein). Der große Klassiker der Abstammungslehre kann heute als voll gerechtfertigt gelten trotz jahrzehntelang ständig wiederholter Einwände, die hierdurch keineswegs triftiger wurden, sondern immer mehr den sich häufenden positiven Ergebnissen der Sachforschung widersprachen (Heberer-Scliewnitz 1959).

Dies hat besonders die Entwicklung des modernsten Zweiges der kausal arbeitenden Phylogenetik gezeigt, die als P o p u l a t i o n s g e n e t i k heute eine zentrale Stellung innerhalb der Gesamtphylogenetik innehat. Sie ist eine quantitativ statistisch und experimentell arbeitende Sparte der Evolutionsforschung, die mit mathematischer Methodik tief in die Kausalität der Wandlungserscheinungen eindringt, der das Erbgut unterliegt (Mutabilität, Mutationsdruck, Allelenbildung; Selektionswert, Selektionsdruck, Genkombinationen durch Bastardierung, zufällige Genausschaltung u. a.). Gleichzeitig erfaßt sie deren Auswirkungen auf die quantitativen Gen- (Allelen) Verhältnisse in den Populationen und damit die Merkmalsverschiebungen und Verteilungen der Mutanten (Mutationsträger). Es wurde schon gesagt: Auch die T r i l o b i t e n, oder auch irgend ein anderer Organismus der Vergangenheit, lebten in solchen P o p u 1 a t i-o n e n. Diese sind heute als die eigentlichen Evolutionseinheiten erkannt worden. Die Größe dieser Populationen steht in Beziehung u. a. auch zur Evolutionsgeschwindigkeit. Kleine Populationen sind in ihrer Evolution beschleunigter als große. Die Populationen früher Hominiden dürften nur geringe Größe besessen haben. Man darf also ihre Evolutionsgeschwindigkeit nicht unterschätzen. Allgemein kann heute wohl als genügend fundiert betrachtet werden, daß die evolutiven Vorgänge in den Populationen dieselben waren, wie sie durch die Populationsgenetik in der Gegenwart exakt analysiert werden (Dobzhansky).

Dieses Kausalgefüge liegt auch letzten Endes der Entstehung größerer Formwandlungen zugrunde. Sie entstanden durch langsamen, selektiv harmonisierten Aufbau komplexer Gengefüge, man kann es additive Typogenese nennen. Daß man den Aufbau solcher Gengefüge nicht direkt beobachten kann, ergibt sich aus dem historischen Charakter dieses Vorganges. Ebenso geht aus diesem Charakter die Nichtwiederholbarkeit solcher Gengefüge hervor. Element a r e Prozesse sind wiederholbar, komplexe nicht! Hierauf beruht die Einmaligkeit des His t o r i s c h en überhaupt nicht allein in der paläontologischen Geschichte der Pflanzen und Tiere, die das Historische so irreversibel im Sinne des Zeitpfeiles macht, sondern auch des Menschen. Die Organismen sind Gebilde von höchster Komplikation sie werden sich nicht wiederholen , und gibt es auf einem anderen Planeten Organismen, die als Prozesse den irdischen vergleichbar sind, so ist es höchst unwahrscheinlich, daß ihre Phylogenie dieselben Bahnen gelaufen ist wie hier, und daß wir etwa Doppelgänger der Menschheit strukturell gesehen im Weltall finden werden.
 
     
     
 
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