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Dann und wann denke ich an Philip, den Schafhirten. Er fällt mir einfach ein. In der U-Bahn, in einem Kaffeehaus, auf einer Gesellschaft muß ich plötzlich an ihn denken.
Philip ist ein ganz alter Mann, fern von Verlockungen und Abenteuer. Er versteht seinen Beruf. Er weiß, seine Herde zu hüten, und macht eine ordentliche Schur. Ich habe gesehen, wie er das gebrochene Bein eines jungen Bockes schiente. Er kann das ausgezeichnet. Jeden Sommer besuche ich den Alten.
Ich fahre dann vor Tagesanbruch mit einem Melker auf die Weiden . Ein Wind weht vom Meer. Wacholderbüsche, Lehm, stehende Wasserlachen und dann wieder Sand, der über die Speichen unseres Gefährtes rieselt. Am Wegrand wuchert Beifuß. Sein harter Duft läßt ihn nur ahnen, denn noch ist die Welt ganz im Dämmern, ohne jede Wirklichkeit.
Endlich, an einem Weidegatter steht Philip und öffnet uns das Tor. In den Hürden liegen Rinder und Ziegen in ruhiger Einfalt. Nur Philips Schafe stehen abseits, eine starre Schar, von jedem Fremden beunruhigt. Einst lebten Schafe mutig in kreatürlicher Selbständigkeit. Der Umgang mit den Menschen hat sie feige gemacht. Aber Philip versteht jede Angst hier zu bannen. Seine Herde soll teilhaben an der Gelassenheit des Morgens.
Der Alte ist ein Sänger, ein Künstler. Er legt seinen Kopf in den Nacken, und sein monotoner Singsang beruhigt die Tiere: "Trug der sanfte Johannes im lavendelfarbenen Kleide ein Lamm. Hing der Leib des ärmsten Menschen im schwarzen Winde an einem Kreuze. Ach, du armes Lamm im Kleide des Johannes. Wie du zitterst um deinen toten Bruder."
Als ich hinüberblicke, fressen die Schafe. Philip macht ein Feuer zwischen den Feldsteinen. Er brät Möweneier in einer Pfanne und reicht mir Schwarzbrot dazu. Er holt einen Napf Ziegenmilch. Wir trinken gemeinsam davon und lassen auch dem Hund seinen Teil.
Alles geschieht hier in Nüchternheit und mit einer natürlichen Trägheit. Bald wird die Erde erwärmt von der aufsteigenden Sonne. Später brennt sie auf den Pelzen der Schafe. Ein ätzender Geruch steigt von ihnen auf. Kraftvoll spiegelt sich der Himmel in der Tränke. Wege, Weiden und die entfernten Felder fließen sanft zusammen in der matten Farbigkeit eines abgenutzten Teppichs. Die Welt ist schön. Atmen, Gehen, Schweigen. Arme Schlafe, kluge Schafe, dumme Schafe. Sonne und Nächte. Ferne Städte, Straßenecken. Mann und Frau. Einsamkeit und Überdruß. Philips Lied, das irgendwo aufgeschrieben steht, ein Gesang ohne Ehrgeiz, dem nur die Tiere lauschen. Angst der Schafe, Angst der Menschen.
Vor mir steigt ein Rebhuhnvolk auf. Ein verdammt gutes Essen. Besser als Ziegenmilch und Schwarzbrot. Wenn ich hier einen Schuß abgäbe, würden die Schafe alle davonlaufen. Philip könnte lange singen, bis sie wieder fressen würden.
Als ich zurückkomme, sitzt ein fremder Mann bei dem Alten. Er ist auch ein Hirt, und sie schwatzten von ihren Tieren. Mein Freund ist nicht müßig. Er webt in einem kleinen Rahmen mit bunten Wollfäden. Ich nehme ihm die Arbeit aus der Hand. Sie gleicht einem abstrakten Bilde. Und was weiß Philip schon von Miro oder Klee. Der Alte erklärt mit großer Umständlichkeit. Er zeigt mit dem Finger hierhin und dorthin. Ich erkenne eine violette Figur auf grauem Grunde. Mattblaue Formen sind die lagernden Schafe.
"Sehen Sie", sagt der Fremde, "es ist der Jünger Johannes. Er ißt gerade ein Kotelett, weil Sonntag ist." "Nicht so, du Narr", antwortet Philip böse, "der heilige Johannes spielt auf der Mundharmonika, weil seine Herde Furcht hat." Ich gebe dem Alten den Rahmen zurück. "Ich möchte dein Bild haben, wenn es fertig ist, weil ich es schön finde!" Und der Alte strahlt. Der fremde Hirt verläßt uns. Philip steckt seine Handarbeit in den Sack und legt ihn beiseite. Er nimmt Brot und Speck aus einem Korb und bewirtet mich. "Wie geht es dir?" fragt er und sieht zu mir hin. "Ach, laß mich! Hier ist alles richtig. Du lebst in einer guten Welt."
Ich ziehe meine Schuhe aus, weil sie mich drücken, und hole mir vom Teich eine Weidenrute. Ich versuche eine Flöte zu schnitzen, wie wir es als Kinder taten. Es gelingt mir aber nicht, und es ist auch nicht wichtig. Du darfst vom Leben nichts verlangen. Dann wird sich alles klären. Du mußt in dir eine Ordnung finden, wie dieser Alte sie hat. Er kennt weder Reichtum noch Müßiggang. Und das Vertrauen zum Leben liegt bei ihm im Haus wie das tägliche Brot.
Ich sehe über die Weiden. Die Tiere grasen. Des Friedens ist kein Ende. Ich fühle die Kraft in der Ruhe des Tages. Das Gleichmaß in der Natur schafft ein Wohlbefinden. Der Morgen wird wie das Gestern sein, bis in alle Ewigkeit.
Philip macht sich bei den Schafen zu schaffen. Er schenkt den Tieren seine Aufmerksamkeit, beobachtet ihr Gehabe und findet ihre Verletzungen. Ein Dorn wird entfernt. Ein heilkräftiges Kraut aufgelegt. Nur die Gleichgültigkeit schafft den Mißklang in der Welt und zerstört. Philip hat das Gleichgewicht der Weisen. Die Unschuld hat ihn zum König seines Reiches gemacht.
Ich denke an die Wirrnis der Großstadt, an den Lärm, der uns tötet. An die Würdelosigkeit der ewig Hastenden, das Aussterben der Gefühle, der Liebe, der Redlichkeit. Ich schmecke die Widrigkeit des Ehrgeizes auf der Zunge und fühle den Stachel der Mißgunst und des Neides unter den Menschen. Das Netz der Intrigen ist dichter als das der Spinnen zwischen den Wacholderbüschen. Und die Erbärmlichkeit trägt die Maske des Hochmuts. Die Städte füllen sich mit Gehetzten, Geplagten. Wer singt ihnen ein Lied zur Stille und Ordnung wie der alte Philip seinen Schafen?
Hier auf der Weide geht der Tag gelassen in den Abend über. Selbst die Dämmerung ist kraftvoll. Die Farben werden leuchtend. Das Gelb des Labkrautes und der blaue Stern der Wegwarte strahlen. Die Nacht ist nahe. Allenthalben werden die Herden zu den Höfen getrieben. Die Rufe der Hirten sind wichtig in der Welt. |
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