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Todesurteile bei Kaffee und Kuchen

 
     
 
Es ist schon eine erstaunliche Leistung, die der gerade mal 38jährige Autor Montefiore mit der Veröffentlichung dieses Buches "Stalin, am Hofe des roten Zaren" erbracht hat. Er unternahm in den 90er Jahren - also, als der Aufbruch zu neuen Ufern, weg von der Sowjetmacht, begann, als Archive geöffnet wurden und man einen Hauch von Offenheit spüren konnte - ausgedehnte Reisen in den Kaukasus, in die Ukraine und nach Zentralasien.

Er stöberte in Schriftstücken, vor allen Dingen aber gelang es ihm, Tagebücher der oberen Führungsschicht
einzusehen. Wir erleben Stalin, den absoluten Herrscher, deshalb auch der Buchtitel, in familiärer Umgebung, und hier geschieht etwas Erstaunliches. Während wir von Hitler jedes Wort, jede Gefühlsregung, jeden Gedanken zu kennen meinen, müssen wir gleichzeitig feststellen, daß wir von dem zweiten Massenmörder des 20. Jahrhunderts eigentlich wenig wissen. Natürlich gibt es Bücher von dem großen Terror, Aufzählungen und Statistiken der Opferzahlen, aber wer hat schon ausführlich erzählt, wie im engsten Kreis, im Beisein der Frauen oder anderer Familienmitglieder, zwischen Kaffee und Kuchen, über Leben und Tod von einzelnen vermeintlichen Regimegegnern, von Berufsgruppen, ja sogar Volksgruppen entschieden wurde?

Nicht, daß Lenin ein Waisenknabe war, wie viele heute noch glauben. Eine Revolution ohne Erschießungskommandos ist sinnlos, soll er gesagt haben. Systematische Morde sind schon seit 1917 verbürgt. Ein Waisenknabe im Vergleich zu Stalin war er nur, weil er rechtzeitig gestorben ist.

Aber zurück zu Stalin: Im Sommer 1931 spitzten sich starke Versorgungsengpässe zu einer regelrechten Hungersnot zu. Während das Politbüro auf Anweisung Stalins seine bisherigen Schikanen gegen Techniker und Ingenieure lockerte, fing der Terror auf dem Lande an. 180000 Mann aus den Städten unter Führung hoher Parteigenossen setzten Schußwaffen, Lynchjustiz und das Lagersystem (GULag) ein, um den Widerstand der Bauern zu brechen. Mehr als zwei Millionen traf die Deportation nach Sibirien oder Kasachstan.

Auf einem, übrigens mit Männchen (!) bekritzelten Zettel, hatte Stalin notiert:

"1.) Wer kümmert sich um die Festnahmen? 2.) Was geschieht mit den ehemaligen weißen Soldaten in den Fabriken? 3.) Wie schaffen wir Platz in den Gefängnissen? Schneller erschießen, damit wir Platz für die Kulaken (Bauern) haben? 4.) Wie werden die verschiedenen Häftlingsgruppen behandelt? 5.) Erlaubte Deportationsquoten: 418000!"

Keine Frage, wer, schuldig oder nicht schuldig, alt oder jung, Mann oder Frau, lediglich die Anzahl!

"Fahren wir ins Grüne!" lud Stalin nach dieser Anweisung Woroschilow ein, machen wir uns ein paar schöne Tage. Seine Datscha und die der anderen Sowjetführer lagen in einer ländlichen Idylle, in Subalowo, nur 35 Kilometer hinter Moskau. In dem üppigen Garten erholte Stalin sich von der "anstrengenden Arbeit" in der Hauptstadt beim Rosenschneiden. Es gab einen Billardraum, eine Bibliothek, ein russisches Dampfbad und ein Kino. Die Kinder gingen in den Wald und suchten Blaubeeren. Zum Kaffee kamen dann die befreundeten Spitzengenossen vorbei, Kaganowitsch, Woroschilow, Mikojan, Bucharin und andere, plauderten und rauchten, abends wurde auch getanzt, während das Land eine Hölle durchlebte.

In diesen Urlaubstagen kam es bei den gegenseitigen Besuchen zu vielerlei Intrigen, viel Klatsch und Tratsch über abwesende Freunde, der zum engeren Kreis gehörende Jagoda berichtete von einem "konspirativen Treffen" der Altbolschewiken Smirnow und Eismont, Stalin ordnete ihre Festnahme an, diese endete grundsätzlich mit Erschießung, und dann ging man zum Essen.

Wie kommt es, daß Stalin bei der Vergangenheitsbewältigung überhaupt nicht erscheint? Im heutigen Rußland mitunter sogar eine gewisse Renaissance erfährt, als Befreier vom Faschismus? In einem Land, das am meisten unter ihm gelitten hat?

Vom XVII. Parteitag fand der Autor ein Album, das bezeichnender Weise fast nur geschwärzt ist oder wo Personen herausgeschnitten wurden, weil von den 1966 Delegierten in den folgenden vier Jahren 1108 festgenommen, die meisten anschließend erschossen wurden!

Stalin griff immer öfter persönlich in die Terrorwelle der Partei ein. So wies er den Leiter des Vollzugsrates an, die Aburteilung der angeblichen Volksfeinde, alles Mitkämpfer der ersten Stunde, binnen zehn Tagen abzuurteilen, um dann die sofortige Hinrichtung durchzuführen! Binnen dreier Jahre wurden kraft dieser Anordnung zwei Millionen Menschen umgebracht.

Als die beiden engsten Vertrauten Lenins, Sinowiew und Kamenew, in Ungnade fielen, wurden auch sie verhaftet, verhört, (Verhöre endeten immer mit Geständnissen) und erschossen, die Leichen äscherte man ein und vergrub die Asche auf dem Donskoi-Friedhof.

Wochen später, bei einem Festessen, ahmte einer aus der Runde das Betteln Sinowiews um sein Leben nach. Er ging aus dem Raum und ließ sich, zum dröhnenden Gelächter Stalins und seiner Kumpane, von zwei anderen in der Rolle von Gefängniswärtern hereinzerren und äffte diesen nach: "Bitte, um Gotteswillen, Genossen, läutet Josef Wissarinowitsch an, er wird mich doch begnadigen, seinen Bruder und alten Kampfgenossen!"

Dieses Buch, so unglaublich das klingt, ist trotz seines grausigen Inhaltes an keiner Stelle überspannt, es regt immer wieder dazu an, mit anderen Menschen darüber zu sprechen. Es half dem Autor, daß viele Briefe Stalins und seiner Genossen erhalten sind, Tagebücher von ihren Frauen eingesehen und noch lebende Verwandte der Ermordeten befragt werden konnten. Im November 1939, der Polenkrieg war gerade siegreich beendet, wurden drei von fünf Marschällen, 15 von 16 Kommandeuren, 60 von 67 Korpskommandeuren liquidiert, immer nach dem gleichen Schema: Verleumden, anklagen, foltern bis ein Geständnis vorliegt, und dann erschießen.

Wenn man sagt, Stalin hat mehr Kommunisten umgebracht als Hitler, so entlastet das Letzteren zwar nicht, aber es stimmt.

Man gab nicht einmal mehr Namen von Verdächtigen vor, sondern nur noch Quoten. Am 2. Juli 1937 wies das Politbüro auf Anweisung Stalins die örtlichen Parteisekretäre an, "antisowjetische Elemente" festzunehmen und zu erschießen.

Am 30. Juli legte Jeschow, Nachfolger von Jagoda, eine Verordnung vor, wonach die Regionen zweierlei Quoten erhielten: Kategorie 1: Erschießen: 72950 Kategorie 2: Deportation: 259450.

Die Quoten wurden befehlsgemäß in kürzester Zeit erfüllt, die örtlichen NKWD-Leute baten deshalb um höhere Zuteilungen, die prompt "bewilligt" wurden. Chruschtschow ordnete von Moskau aus die Erschießung von 55700 Verdächtigen an, womit er die angeordnete Quote 50000 übererfüllte. Am 10. Juli 1937 ersuchte er Stalin, weitere 2000 Verräter hinrichten zu dürfen.

Chruschtschow, Molotow, Bulganin waren an diesen Metzeleien führend beteiligt.

Diese Massenmörder standen im Oktober 1955 dem deutschen Bundeskanzler Adenauer gegenüber, als er um die Rückführung der letzten deutschen Kriegsgefangenen und bis weit nach Kriegsende verhafteten Männer und Frauen kämpfte, die Bulganin wörtlich als "Gewürm, nicht wert, auf der Erde zu leben" bezeichnete!

20 Millionen Ermordete war die Bilanz der "glorreichen" Führung des kommunistischen Staates, eines Staates, der den neuen Menschen erschaffen wollte.

Ganz sicher liegt auch hier der Schlüssel für die bestialische Grausamkeit, mit der die Rote Armee Osteuropa "befreite", Menschen, die nie etwas anderes kennengelernt haben, benahmen sich so, wie sie es zu Hause gewohnt waren.

Herrn Montefiore ist ein Buch gelungen, das lexikonartig dieses Verbrechersystem aufdeckt, 120 Seiten Quellennachweise vertiefen die Glaubwürdigkeit dieser unglaublichen Berichte. Es ist ein absolutes Muß, wenn man mitreden möchte über Massenmörder im 20. Jahrhundert, aber auch, wenn man vielleicht dem Gedanken nachhängt, alles war ja bestimmt nicht so schlimm. Doch, das war es! Lothar Scholz

Simon Sebag Montefiore: "Stalin, am Hofe des roten Zaren", S. Fischer-Verlag, Frankfurt / M. 2005, geb., 872 Seiten, 25,20 Euro
 
     
     
 
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