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Es wird unwahrscheinlich klingen, doch es war eine Tatsache, daß ich während meiner Schulferien, die ich bei meinem Großvater in Deutschendorf verbrachte, mit dem jüngsten der beiden Söhne des dortigen Kantors eine gemeinsame Braut besaß. Unzweideutiger läßt es sich vielleicht so ausdrücken: Heinrich Naht, semmelblond, blauäugig und mit einem bezaubernden Lächeln begabt, war mein gefährlichster Nebenbuhler in meiner Ferienliebe.
Vorher hatte ich bereits einmal eine Braut ganz für mich allein gehabt. Das war in Braunsberg. Und ich mochte damals wohl neun oder zehn Jahre alt gewesen sein. Ich entsinne mich deutlich, wie ich eines Tages, von mächtiger Leidenschaft getrieben, so schnell mit meiner Büchertasche auf dem Buckel hinter meiner Braut herlief, daß mir der Schwamm meiner Schiefertafel dabei immer ins Gesicht schlug. - Weil Vaters Einkommen mehr als bescheiden war, ging ich damals immer mit schweren, scheußlich klappernden Klotzkorken zur Schule, da meine Lederschuhe nur an Sonn- und Feiertagen getragen werden durften.
Meine Braut aber trug schöne, leichte Schnürschuhe und war natürlich schon deshalb sehr flink auf den Beinen. Dies allein vermag bereits zu erklären, weshalb ich stets hinter ihr herlaufen mußte, wenn ich sie im Auge behalten wollte. Der tiefere Grund für meinen Wettlauf mit meinem Glück lag aber wohl nicht so sehr in jenen Schnürschuhen. Er lag in der Tatsache, daß meine Angebetete mindestens doppelt so lang wie ich selber war. Heute würde ich eine ähnliche Dame kaltschnäuzig eine fürchterliche Bohnenstange nennen. Damals waren meine ästhetischen Maßstäbe noch nicht so geklärt. Ich sah nur bewundernd zu der Angeschwärmten auf. Im übrigen ist die so Bewunderte auch mindestens doppelt so alt gewesen wie ich. Denn sie war, wie ich auf Umwegen erfuhr, wohlbestallte Angestellte einer Zigarettenfabrik.
Gesehen habe ich meine Braut insgesamt vielleicht sechsmal, gesprochen nie. Schon bei der dritten Sicht endete meine Liebe auf eine ebenso merkwürdige wie tragische Weise. Als ich eines Tages auf dem Weg zur Schule eifrig hinter meiner eilfüßigen Geliebten herlief, kippte ich - Liebe macht bekanntlich immer blind! - bei einem Fehltritt jählings aus meinen Holzpantinen in den regenwassergefüllten Rinnstein. Daß meine Braut, als sie mich dort plätschern hörte, in ein grausames Gelächter ausbrach, in das auch einige schadenfreudige Schuljungen johlend einstimmten, mag menschlich verständlich sein. Mir erschien es geradezu unmenschlich. Meine Geliebte war für mich moralisch gerichtet. Wenn ich ihr später einmal begegnete, habe ich kein Auge mehr auf sie geworfen.
Doch nun muß ich wohl endlich von unserer gemeinsamen Braut in Deutschendorf erzählen. Sie erschien mir trotz der überaus zahlreichen Sommersprossen, die ihr Gesicht bedeckten, wie eine Göttin, obwohl sie bei weitem nicht so lang wie meine Braunsbergerin war. Schon ihre Nase war ein Zierstück ersten Ranges. Sie war, wenn ich sie heute rückerinnernd betrachte, eine wahrhaft klassische Nase. Unsere eigenen Gesichtserker, besonders meine kleine Stupsnase mit den im Verhältnis dazu beängstigend großen Nasenlöchern, konnten sich daneben gar nicht sehen lassen.
Auch der Gang unserer Braut war feenhaft. Wie auf Draht ging sie immer. Selbst mein Großvater war hell begeistert und drückte diese Herzensregung sehr bildhaft durch die Worte aus: "Das federt man alles so an ihr!" - Ja, es federte tatsächlich alles. "So sollst du man auch endlich gehen lerne!" fuhr Großche in seinem trauten Deutschendorfschen Dialekt mahnend fort. "Nich ömmer mit de Fieß nach inne, wie de Leit aus Gumbinne!"
Ach ja, meine Füße! Die waren immer schon die Ursache meiner schlaflosen Nächte und der Grund für Vaters größte Kummerfalte gewesen. Nicht nur, weil sie dauernd in feuchten oder mindestens schmutzigen Strümpfen staken, sondern eben auch deshalb, weil sie stets in die falsche Windrichtung zeigten.
Wie oft schon hatte mein Vater zu mir gesagt: "Mit den Quadratlatschen wirst du im Leben keine Frau kriegen, du Krummstiebel!" Und sicher würde er recht behalten haben, wenn ich mir mit Vaters oft leider sehr energischer Unterstützung nicht rechtzeitig vor meiner Heirat ein Paar anständige Füße angeschafft hätte. Sein strenges Kommando: "Füße nach außen, Bengel!", das sich auf jedem unserer gemeinsamen Spaziergänge in kurzen Zwischenräumen stets wiederholte und die Blicke aller Spaziergänger auf mich Krummbein lenkte, hat Wunder gewirkt. Tadellos ausgerichtet, sind meine Füße heute rechte Staatsstücke geworden ...
Doch, mein Himmel, ich bin ja ganz von unserer gemeinsamen Braut abgekommen. Also zurück zu ihr! Neben prachtvoll ausgerichteten Gehwerkzeugen hatte unsere Braut auch ein Paar ganz wundervoller, tief braungoldener Augen. "Wie ein Rehchen im Walde!" äußerte Großche in begreiflicher Bewunderung. Wie hätten wir selber mit unseren nur blau- und grüngrauen neben diesen braungoldenen Rehaugen bestehen sollen? Und nun erst das Haar unserer Braut. Es war ein duftiges, dunkelgoldfarbenes Lockengebilde, das unsere Angebetete wie eine goldene Krone schmückte. Unser eigenes Haar aber war das Gegenteil. Es war, seitdem die Liebe in uns rumorte, zwar stets sehr sorgfältig gescheitelt und mit Großches Bartpomade oder mit der eigenen Spucke gewichst; doch es lag wie angeklatscht auf unseren Häuptern; wenigstens am Morgen, bevor wir unseren unruhigen Tageslauf begonnen hatten.
Wenn unsere Schöne an Großchens Hof vorüberkam, dann war mir, als ging plötzlich in der nächsten Nähe eine Sonne auf, deren mächtige Strahlen sich besonders an meinem puterrot anlaufenden Kopf bemerkbar machten. Auch meine Hemdenbrust strahlte plötzlich eine schier unerträgliche Hitze aus, wenn ich, die Nase krampfhaft an die Fensterscheibe gedrückt, dastand, um den jungfräulichen Engel da draußen möglichst lange im Auge zu behalten. Und irgend etwas bubberte mir dabei inwendig gewaltig und fast schmerzhaft gegen die Rippen. Selbst wenn Großche mir in solchen Augenblicken der Ekstase, um mich abzulenken, ein Bommchen anbot oder wenn er mir mahnend zurief: "Na, nu werde mir doch man nich ganz narrsch, du Grienschnabel!", wurde mir nicht wesentlich kühler unter der Weste.
Ging unser Engel, nachdem ich ihn endlich auch persönlich kennengelernt hatte, mit mir spazieren, so fingen Gras und Blumen, Sonne, Mond und Sterne, ja, selbst die Kühe auf den Feldern an zu singen. Wenn dies - besonders bezüglich der Kühe - auch nicht ganz wörtlich zu nehmen ist, ich muß doch sagen, daß die ganze Welt mir in solchen Augenblicken wie ein einziger Lobgesang erschien. Und der Text dieses Weltgesangs hatte immer nur drei Worte: "Grete! Meine Grete!" So hieß nämlich die Spazierende neben mir.
Einmal hatte ich sogar mit ihr getanzt. Jedenfalls machte ich einen krampfhaften Versuch dazu. Es war auf einem Kinderfest, bei dem die Dorfkapelle einen grausigen Lärm verursachte, der Musik sein sollte, wie Großche erzählte. Minutenlang war ich trotz des furchtbaren Spektakels überglücklich, mit meiner Angebeteten im Arm. Sie selber war wesentlich zurückhaltender in der Äußerung ihrer Begeisterung. Doch plötzlich, mitten in dem schönsten Wiener Walzer, gefror mir bei aller Hitze in meiner Brust plötzlich das Herz, als sie mich - sie war nämlich eine waschechte Berlinerin - unwirsch anfuhr: "Mensch, trample mir doch jefälligst nich imma uff de neuen Lackschuhe rum!"
Ich errötete bis in meine plumpen Beine hinein und bat die kesse Dame um Entschuldigung. Sobald ich aber zu Hause war, begann ich in Großches Zimmer mit Feuereifer tanzen zu lernen; und zwar mit einem von Großchens Küchenschemeln, den ich krampfhaft an die Brust gedrückt hielt, während ich mich nach einer inneren Melodie im Kreise bewegte. Es störte mich nicht, daß Großche drohte, er würde den Schandarm, den Dorfgendarm, holen; denn Verrückte gehörten ins Spritzenhaus. Bald mußte ich selbst einsehen, daß der Tanzbär, der manchmal, von einem Zigeuner geführt, zu uns ins Dorf kam, die schwere Kunst des Tanzens wesentlich besser beherrschte als ich.
Das war mir um so mehr ein schmerzender Stich in die Brust, weil unsere Braut mir eines Tages herzlos zu verstehen gegeben hatte, daß mein Nebenbuhler - Heinrich, der blauäugige Sohn des Kantors - gut tanzen könne für sein Alter. Immerhin ist mir ein Trost geblieben: unsere gemeinsame Braut hat keinen von uns beiden, sondern einen lachenden Dritten heimgeführt, was ich ihr heute übrigens durchaus nicht mehr übelnehme, da ich selber eine Frau gefunden habe, mit der ich mehr als zufrieden bin.
Fritz Kudnig wurde am 17. Juni 1888 in Königsberg geboren. Seine Gedichtbände sowie seine Erzählungen fanden ein breites Publikum. Kudnig, der mit der Verleihung der Agnes-Miegel-Plakette und des Ostdeutschen Kulturpreises geehrt wurde, starb vor 25 Jahren, am 6. Februar 1979 in Heide/Holstein, wo er nach der Flucht mit seiner Frau Margarete eine neue Existenz aufbauen konnte. Mit Lichtbildvorträgen und Lesungen reiste er gemeinsam mit seiner Frau durch die Lande und hielt so die Erinnerung an seine Heimat Ostdeutschland in den Herzen der Menschen wach. Viele seiner Gedichte und Texte sind geprägt von der Suche nach Gott. Os |
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