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Es waren allerhöchstens sechs Sekunden, die Susanne ihr Täschchen unbeachtet ließ. In der Passage vor dem Kaufhaus wühlte sie in einem Stand von Sonderangeboten, legte ihr Handtäschchen beiseite, um die zartgrüne Bluse näher betrachten zu können. Und diese denkbar kurze Zeit nutzte ein Dieb. Er schnappte sich das Täschchen und stürmte mit ihm davon. Susanne sah ihn gerade noch um die Ecke flitzen. Wild gestikulierend versuchte sie ihm zu folgen, aber der Mann war wie vom Erdboden verschluckt. Diverse Schlüssel, einige Ausweispapiere und ein paar größere Scheinchen mußte sie samt Handtäschchen nun wohl abschreiben.
In der Nähe des Kaufhauses befand sich eine Polizeistation. Schnurstracks steuerte Susanne diese an, um den Vorfall zur Anzeige zu bringen. Sie gab alles über den Inhalt des Täschchens zu Protokoll, konnte aber über die Person des Diebes nur recht vage Angaben machen.
"Da wir über den Täter so wenig wissen, Frau Lehmann, wollen wir Ihnen keine allzugroßen Hoffnungen machen, aber Sie können versichert sein, daß wir unser möglichstes tun werden", meinte der Polizist .
Gestärkt von dieser kleinen Hoffnung wollte sich Susanne gerade verabschieden, als der Polizeibeamte sie wieder zurückrief: "Da fällt mir gerade noch etwas ein, Frau Lehmann, wie kommen Sie jetzt in Ihre Wohnung?"
"Ich habe noch einen Reserveschlüssel in meiner Jackentasche."
"Tja, und dann, ich meine, befindet sich jetzt jemand in Ihrer Wohnung?"
"Nein", entgegnete Susanne. "Mein Mann dürfte vor etwa einer Stunde das Haus verlassen haben. Sonst ist niemand zu Hause."
"Ich will Ihnen ja nicht bange machen, Frau Lehmann", meinte der Polizist, "aber wir kennen gewisse Gepflogenheiten solcher Straßendiebe. Sie nutzen so etwas unverzüglich aus. Nach so einem Diebstahl rufen sie in der Wohnung an oder klingeln an der Haustür. Meldet sich niemand, so haben sie mit dem gestohlenen Schlüssel leichtes Spiel. Ich werde einen Kollegen zu Ihrer Begleitung abstellen!" Susanne war sichtlich erleichtert und stimmte diesem Vorschlag dankbar zu. Während sie sich noch im Hintergrund aufhielt, öffnete der hilfsbereite Polizist mit dem Reserveschlüssel die Wohnung und sah sich um. Dann winkte er Susanne herbei, "als wenn ich es geahnt hätte", sagte der Polizist, "der Dieb ist uns doch tatsächlich zuvorgekommen!"
"Worauf begründen Sie denn Ihre Vermutung?" wollte Susanne zaghaft wissen.
"Sehen Sie doch nur, eine Schranktür steht offen, dazu ist die Kommodenschublade durchwühlt, darüber das Bücherregal in völliger Unordnung, Zeitungen sind auf Couch und Boden verstreut, und sehen Sie nur dort drüben ..."
Susanne tat einen tiefen Seufzer und unterbrach den Polizisten in seinen Aufzählungen. "Ach, wissen Sie, das war kein Dieb. So sieht es in unserer Wohnung immer aus, wenn mein Mann seine Brille sucht und sie letztendlich doch nicht finden kann."
Erich Gindler: "Im Königsberger Hafen" nannte der Künstler seine Arbeit, die im neuen Kalender "Ostdeutschland und seine Maler" für das Jahr 2004
zu finden ist. Gindler wurde 1903 in Königsberg geboren und starb 1995 in Lübeck |
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