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Eine bedeutende Bundestagswahl stand an. Eine Wahl, die Hanna Burneleit lange im voraus beschäftigte. Mehr als jede vorangegangene, bei der sie ihre Stimme abgegeben hatte. Und das hatte sie, seit sie wahlberechtigt war, nie versäumt. Mit dieser freiwilligen Bürgerpflicht, wie sie das Wählen nannte, war es ihr immer ernst gewesen. Allerdings hatte sie noch vor keiner Wahl so offen ihre politische Meinung bekundet wie vor der gerade ausstehenden, und sie hatte sich auch noch nie zuvor so engagiert darüber geäußert, was zu bedenken ihrer Meinung nach wichtig war.
Alle Nachbarn und Bekannten, mit denen sie in den Wochen vor dem Wahltag ins Gespräch kam, hatten das hinnehmen müssen. Und wenn Hanna Burneleit bemerkte, daß Meinungen und Überlegungen ihren eigenen Ansichten entgegenstanden, machte sie diese den Betroffenen mit Feuereifer strittig.
Man wunderte sich über Hanna Burneleit; denn politisch so engagiert hatte sie bisher noch niemand erlebt. Dann brach der Wahlsonntag an. Und da wunderte man sich fast noch mehr über sie. Gleich als sie aus dem Haus trat. Denn sie trug an diesem Tag einen Hut. Einen Hut, der nicht zu übersehen war. Und mit einem Hut auf dem Kopf hatte sie von denjenigen, die hier wohnten, noch niemand gesehen. Es war ein im Kopfteil recht hoher Hut mit einem tief hinabreichenden Stulprand. Der Hut lockte einige der Nachbarn, die Hanna im Blickfeld hatten, an die Fenster. Und auf dem Weg zum Wahllokal wurde er auch von vielen Passanten begutachtet, wie sie mit Genugtuung feststellte.
Gänzlich verwundert zeigten sich aber die näheren Bekannten, die Hanna Burneleit an diesem Sonntagnachmittag traf. Denn auch von ihnen hatte Hanna noch niemand mit einem Hut bekleidet zu Gesicht bekommen. Sie erhielt manches darauf ausgerichtete Kompliment, wurde aber auch mehrfach gefragt, ob sie sich den Hut extra für die Wahl angeschafft habe. So nach dem Motto: "Wenn das nicht hilft, hilft gar nuscht mehr!" Das war der kurze Kommentar eines Landsmannes gewesen. Andersgesonnene äußerten sich dahingehend, daß sich die Kosten, in die sie sich gestürzt habe, kaum lohnen würden.
Als sie schließlich wieder zu Hause war, kam auch schon bald ihre Tochter vorbei und blickte sie verwundert an. Sie verstand wohl am wenigsten, daß die Mutter diesen Hut getragen hatte, und wollte wissen, was die Mutter dazu bewogen hatte. "Warum ich ihn aufsetzte, kann ich eigentlich gar nicht erklären. Er war mir kürzlich unter die Hände gekommen, und da stülpte ich ihn mir ohne jede Absicht auf den Kopf. Vor dem Spiegel fand ich dann, daß er mir recht gut stand. Da entschloß ich mich, ihn einmal zu tragen. Das tat ich heute." - "Und? Hat man dich ausgelacht?" wollte die Tochter wissen. "Ausgelacht? Im Gegenteil! Die Wirkung war beachtlich. Das zeigte sich bei allen, die sich mit mir unterhielten. Und einige, dies war unverkennbar, sprachen mich nur wegen des Hutes an. Auch manche Fremde schauten im Vorübergehen recht bewundernd zu meinem Hut auf." - "Dann hat man das alte Ding wohl tatsächlich für neu gehalten!" wunderte sich die Tochter. "Zweifellos!" bestätigte Hanna. "Das ist doch kaum zu glauben!"
"Du kannst es mir aber glauben! Es war so! Ich habe heute mit dem Hut, den ich mir vor ungefähr 30 Jahren kaufte und nie getragen habe, eine Art Politik betrieben, so nach dem Motte: Wenn man etwas geschickt anstellt, sieht das Volk die Dinge so, wie es sie sehen soll." - "Wenn du so weitermachst, Mutter, wirst du noch im Bundestag landen!" äußerte die Tochter amüsiert. "Es muß ja nicht gleich der Bundestag sein", entgegnete Hanna mit gespieltem Ernst. "Na ja, da müßtest du dich erst langsam hinarbeiten. Den Anfang für eine politische Karriere könntest du deinen Ausführungen nach heute aber gemacht haben." - "Vielleicht ist es ein Anfang! Irgendwie könnte ich mir da tatsächlich etwas vorstellen."
Die Tochter schüttelte den Kopf. "Ich glaube, ich geh jetzt lieber!" sagt sie nur noch, ehe sie das Zimmer verließ. Sie wußte, bei ihrer Mutter war einiges denkbar.
Nachdem die Tochter gegangen war, nahm Hanna in ihrem bequemsten Sessel Platz und drückte auf die Fernbedienung des Fernsehapparats. Die ersten Hochrechnungen der Wahlergebnisse wollte sie nicht verpassen. Und bald schon konnte sie feststellen, daß das, was sich abzeichnete, ganz in ihrem Sinne war. Zufrieden lehnte sie sich zurück. Und dann überdachte sie noch einmal diesen Tag. Dabei lächelte sie still vor sich hin.
Kleine ostdeutsche Station von Martin Borrmann
Kleine ländliche Bahnhofswelt,
Güterwagen am Roggenfeld!
Jeden Nachmittag, stundenweit,
hält ein Zug
aus der fernen Zeit.
Trunken von Hitze
liegt das Dorf,
trunkene Fliege
auf Moor und Torf;
Onkels Fuhrwerk
auf Kohlengrieß
hält vor dem Bahnhofsparadies.
Lieber als Alpe
und südliches Meer
bist du mir,
Bahnhof in Korn und Teer!
Immer noch denkt,
friedlich, doch bang,
meine Seele
die Schienen lang.
Ach, vielleicht ist
das Himmelszelt auch nur solch
kleine Bahnhofswelt.
Ich, mit Onkel und Gespann,
komm in
Himmlisch-Olschöwen an.
Und der Vorsteher dort
ist der Tod,
und der Träumesteller
heißt Gott.
Wenn aber hell
das Läutewerk klingt,
ist s, daß ein Mund
vom Traume trinkt.
Jeden Nachmittag stundenweit
rollt ein Zug
durch die Ewigkeit.
Bin zu Hause
und doch nur Gast.
Süße Unrast. Süßere Rast. |
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