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Von Johann Peter Hebel stammt die Erzählung vom fleißigen Landmann. Der wird von einem Reisenden gefragt, warum er von morgens bis abends schaffe. Weil er so viele Verpflichtungen zu erfüllen habe, heißt die Antwort: Ein Drittel seines Einkommens gehe für die Rückzahlung von Schulden drauf, ein weiteres Drittel spare er, das letzte Drittel diene ihm zum Lebensunterhalt. Woher so hohe Schulden, wenn er so viel sparen könne, will der Reisende wissen. Woraufhin ihm der Bauer erklärte, die Schulden seien der Unterhalt, den er seinen Eltern zahle; das Sparguthaben seien seine Kinder, die ihn im Alter ebenso versorgen sollten wie er jetzt seine Eltern; der Rest sei für ihn selbst und seine Frau bestimmt.
So hat der Generationenvertrag in seiner ursprünglichen Form ausgesehen. Und nur in dieser ursprünglichen Form war er gerecht und dauerhaft. Er umfaßte nicht nur zwei, sondern drei Generationen, die Kinder also auch. Die Sozialmarode ure aller Parteien, die Dresslers und die Blüms, die Geißlers und die Ehrenbergs, haben ihn verkürzt und so verdorben. Sie haben die staatlich garantierte Wohlfahrt so eingerichtet, daß es sich lohnte, auf Kinder zu verzichten. Wo sich der Landmann auf die eigenen Kinder verließ, rechnet der moderne Sozialstaatsbürger auf die Kinder anderer Leute. Für ihn ist Solidarität ein einseitiges Unternehmen. Er öffnet seine Hand zum Nehmen, nicht zum Geben und möchte ernten, wo er nicht gesät hat.
Der moderne Versorgungsstaat hat das herkömmliche Unterhaltsrecht, das auf persönliche und nicht auf anonyme Beziehungen setzte, zu einem Anachronismus gemacht. Wo sich die Menschen daran gewöhnt haben, alle möglichen Ansprüche gegen den Staat und seine Agenten zu erheben, wirken persönliche Verpflichtungen wie eine zusätzliche Last, die man nach Möglichkeit umgeht. Der Grundsatz, der Eltern zum Einsatz für ihre Kinder und Kinder zum Einstehen für ihre Eltern verpflichtet, paßt nicht in eine Zeit, die sich in allem auf den Staat verläßt. Dieselbe Sozialbürokratie, die ihre Auslagen für Rentner, Kranke, Pflegefälle von deren Kindern zurück-fordert, zahlt für die Kinderlosen ohne Vorbehalt. Denn wo nichts ist, kann das Sozialamt auch nichts holen.
Das ist der Hintergrund, vor dem der Bundesgerichtshof die Klage eines Mannes entschieden hat, der sich gegen die Rückforderung gewehrt hatte. Obwohl relativ wohlhabend, wollte er nicht einsehen, warum er aus seinem eigenen Vermögen einen Teil der Kosten tragen sollte, die das Sozialamt für die pflegebedürftigen Eltern aufgebracht hatte. Das Gericht fällte ein salomonisches Urteil, indem es die Verpflichtung des Sohnes begrenzte. Was Kinder brauchen, um ein ihrem Einkommen, Vermögen und sozialem Rang angemessenes Leben zu führen, darf von den Sozialbehörden nicht angetastet werden.
Das Urteil reagiert auf eine Entwicklung, die dazu angetan ist, den besonderen Schutz, den die Verfassung der Familie zugesichert hat, ins Gegenteil zu verkehren. Familie sein oder Familie zu haben ist unter den Bedingungen des modernen Versorgungsstaates zu einem unkalkulierbaren Risiko geworden. Die nachfolgende Generation muß ja nicht nur für die eigenen Eltern aufkommen, sondern darüber hinaus auch für die große und schnell wachsende Zahl von Leuten, die den Generationenvertrag nur zur Hälfte erfüllt haben. Sie haben mit ihren Beiträgen und Abgaben für die Älteren gesorgt, den recht erheblichen Aufwand, den die Erziehung von Kindern verlangt, aber gespart.
Das Urteil hat allerdings noch eine weitere beunruhigende Dimension. Es erinnert daran, daß der Sozialstaat deutscher Bauart selbstzerstörerische Konsequenzen hat. Er führt ja nicht nur zu finanziellen Ungerechtigkeiten, sondern richtet auch immaterielle Schäden an. Indem er die Menschen dazu einlädt, private Verpflichtungen gar nicht erst einzugehen oder ihre Konsequenzen, wenn möglich auf andere abzuwälzen, untergräbt er die Fundamente, auf denen er ruht. Er fördert die Solidarität im großen, anonymen Rahmen auf Kosten der Nächstenliebe im kleinen Kreis. Ohne die Agenturen des Wohlfahrtsstaates und die vielen, die sie ganz ungeniert in Anspruch nehmen, wäre es zu der Klage, die jetzt vom BGH entschieden worden ist, niemals gekommen.
Der Autor ist Chefkorrespondent der Tageszeitung Die Wel |
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