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Renate Schmidt, Vorsitzende des Forums Familie der SPD und seit 1997 stellvertretende Vorsitzende ihrer Partei, seit Sommer 2002 ferner Präsidentin des Deutschen Familienverbandes, plädiert in ihrem Buch "S.O.S.-Familie. Ohne Kinder sehen wir alt aus" für eine vorurteilsfreie Diskussion der Frage, ob nicht auch den Kindern ein Wahlrecht zugesprochen werden sollte, das wie viele andere Kinderrechte durch die gesetzlichen Vertreter, also in der Regel die Eltern, auszuüben wäre. Sie zitiert dazu beifällig die langjährige Justizsenatorin von Berlin und Hamburg Lore Peschel-Gutzeit und den ehemaligen Bundespräsidenten und Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Roman Herzog.
Das Parlament nahm dazu unter der Überschrift "Für ein Familienwahlrecht gibt es keine Mehrheit" Stellung (21/02) und brachte Äußerungen von Abgeordneten aller Bundestagsparteien. Dabei tauchte immer wieder ausdrücklich oder sinngemäß der Einwand auf, das Wahlrecht sei ein höchstpersönliches Recht. "Nicht ohne Grund hätten die Demokratien Europas das Wahlrecht für unübertragbar erklärt." Hält dieses Argument einer Prüfung stand? Der französische Ministerpräsident Jospin, bis zum ersten Wahlgang aussichtsreicher Präsidentschaftskandidat, stand nach seinem Scheitern zwischen dem Dilemma: Chirac, Le Pen oder totale Abstinenz beim zweiten Wahlgang. Dazu hieß es am 27. April in der Süddeutschen Zeitung: "Wen Jospin wählt, das bleibt ein Geheimnis. Da es in Frankreich keine Briefwahl gibt, hat er einem Freund die Vollmacht gegeben, für ihn in die Wahlkabine zu gehen." Ja, das französische Wahlrecht kennt diese Möglichkeit und ebenso das Wahlrecht des United Kingdom wie der meisten anderen Commonwealth-Staaten. Die Übertragung des Stimmrechts ist in Frankreich zwar nicht ohne weiteres möglich, aber die Gründe, die Art. 71 des Code électoral aufzählt, sind so zahlreich, daß sie den Voraussetzungen für die Ausübung des Briefwahlrechtes in Deutschland nahekommen, wie das Beispiel Jospin zeigt.
Großbritannien ist nicht minder entgegenkommend. Formblätter mit dem Aufdruck "Postal or Prxy Voting" enthalten die Spalte: "Iwandt someone else to vote for me (a procy vote)". Die nächste Spalte lautet: "Reasons for Allication". Als Beispiele werden genannt: "Illness, working away, on a course, holiday". Ferner steht zu lesen: "You can apply for an absent vote for ALL future elections or for a particular election." Dazu gehören auch die Wahlen zum Europäischen Parlament.
Dieser Sachverhalt in den traditionsreichen Demokratien Europas macht deutlich, daß der eingangs skizzierte Einwand gegen das Stellvertretermodell nicht stichhaltig ist. Entgegen verbreiteter Meinung ist auch das Grundgesetz insofern kein Hindernis: Das Wahlrecht kann durchaus übertragbar sein. Es nennt in Artikel 38 Absatz 1 fünf Merkmale demokratischer Wahlen: "Die Abgeordneten ... werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt."
Doch von "höchstpersönlich" ist nicht die Rede. Wir finden dieses Gebot nur in den Wahlgesetzen. Dort hat es seine Berechtigung. Warum? Damit mit der Stimme kein Mißbrauch getrieben werden kann, wie zum Beispiel verkaufen, verschenken, versteigern, abnötigen lassen. Das alles sind reale Erfahrungen der Wahlrechtsgeschichte. Doch diese Gefahr besteht nur, wenn die Übertragung durch einen Willensakt erfolgt. Geschieht sie kraft Gesetzes, so ist sie ausgeschlossen. Auch in Deutschland gibt es sowohl in den Bereichen des öffentlichen wie des privaten Rechts die Möglichkeit der Stimmrechtsübertragung, so in den Gremien der Hochschulen, im Aktienrecht, im Vereinsrecht, um nur einige Beispiele kurz anzusprechen. Die umfassende Wahrnehmung der Rechte der Kinder durch ihre Eltern ist eine weltweite Selbstverständlichkeit. Wird ein Kind bei seiner Geburt verletzt, so stehen bei der Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen primär seine Rechte auf dem Spiel. In einem etwaigen Prozeß ist der Säugling Kläger, vertreten durch seine Eltern. Die wenigen Ausnahmen, die es gibt, so Eheschluß und Testamentserrichtung, unterscheiden sich vom Wahlrecht so fundamental, daß es müßig ist, die Unterschiede aufzuzählen. So bewirkt der Eheschluß nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch prinzipiell eine lebenslängliche Bindung (Paragraph 1353: "Die Ehe wird auf Lebenszeit geschlossen"), während die Wahlen nur wenige Jahre binden dürfen. Hinzu kommt, daß das Parlament auch dann entscheidet, wenn es von den minderjährigen Staatsbürgern nicht legitimiert worden ist. Die Vorenthaltung des Wahlrechts bewirkt also keinen Aufschub der Entscheidung.
Auch praktische Bedenken verschwinden bei näherer Betrachtung des Vorschlages: in aller Regel sind beide Elternteile vertretungsberechtigt. Jeder von beiden könnte dann zugunsten des Kindes ein halbes Stimmrecht ausüben. Eine Einigung wäre nicht notwendig. Fazit: Europäische Nachbarländer kennen die Möglichkeit, das Wahlrecht zu übertragen. Auch das Grundgesetz spricht sich nicht dagegen aus. Wird den Kindern ein Wahlrecht von Geburt an eingeräumt, so erhalten sie ein politisches Gewicht. Der Anteil der Familien an den Wahlberechtigten würde ihrem tatsächlichen Bevölkerungsanteil angepaßt. Ein Blick in die Wahlrechtsgeschichte zeigt, daß häufig nicht juristische Aspekte den Ausschlag geben. So widersetzten sich im Frankreich der Dritten Republik (1870-1940) ausgerechnet jene, die sich für progressiv hielten, der Ausdehnung des Wahlrechts auf Frauen, weil sie glaubten, die Frauenstimmen würden überproportional den Konservativen zugute kommen. Erst 1940, 26 Jahre später als in Deutschland, durften die Französinnen zu den Urnen gehen. |
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