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Aus bleischwerem Schlaf wacht Oma Anna am Morgen auf. Es dauert einige Zeit, bis ihr Gedächtnis orten kann, was heute ablaufen soll. Ach ja, heute will ihre Gymnastikgruppe eine Busfahrt in den Odenwald starten, und am Nachmittag steht eine Dampferfahrt auf dem Main auf dem Programm. Um sieben Uhr in der Frühe ist Abfahrt. Sie schaut auf den Wecker - o Gott, es ist schon halb sieben, sie hat verschlafen! Dabei hatte sie sich so sehr auf den Ausflug gefreut.
Na ch langer Krankheit - sie lag einige Wochen im Krankenhaus - sollte dies ihr erstes Unternehmen mit der vertrauten Seniorenrunde sein. Ihre Erwartungen an diesen Tag waren so groß, daß sie am Abend zuvor nicht einschlafen konnte. Lange nach Mitternacht nahm sie ein Beruhigungsmittel ein, um wenigstens noch einige Stunden Schlaf abzukriegen - und nun sollte der Bus ohne sie abfahren.
Vielleicht hat er Verspätung, und ich kann ihn doch noch erreichen, ist ihr nächster Gedanke. Eiligst macht sie sich fertig. Fast den Tränen nahe, ruft sie ihren Enkel an, der in der Nähe wohnt, und bittet ihn, er möge sie zu dem vereinbarten Treffpunkt fahren. Der will gerade das Haus verlassen, um zur Arbeit zu gehen. "Ich komme", ist seine knappe Antwort, und er legt auf. Wenige Minuten später steht er vor der aufgeregten Oma. "Heul nicht, steig ein", gibt er ihr kurz angebunden Bescheid. "Ich kenne eine Abkürzung, vielleicht erwischen wir den Bus noch, bis er die Letzten eingesammelt hat."
Tatsächlich schafft er es an der letzten Zusteigestelle, und Oma Anna kann mit Hilfe des freundlichen Busfahrers hineinklettern. Erleichtert atmen ihre Turnschwestern, die bang nach ihr Ausschau gehalten hatten, auf und zeigen ihr den bereit gehaltenen Platz.
Draußen hebt der Enkel die Hand zum Gruß. Wenn auch zuvor sein Ton recht barsch klang, hätte es ihm doch sehr leid getan, wenn der Oma der Ausflug durch die Lappen gegangen wäre. Eine Aufmunterung in ihrem geliebten Mumienkreis, wie er respektlos zu sagen pflegte, hatte sie bitter nötig. Es war an der Zeit, daß sie wieder etwas aufgepeppt wurde. Jetzt stand ihm zwar ein gewaltiger Ärger mit seinem Chef bevor, weil er zu spät zur Arbeit kam, doch was tut man nicht alles für seine alte Dame? Hilde Murs |
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