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Isa zog ihren Schal höher zum Kinn hinauf. Ein feiner Nieselregen fädelte sich vom Himmel und drang feucht in ihre Kleidung. Das trostlose Wetter drückte auf das Gemüt, verdunkelte die Stimmung, und wenn man dann auch noch Kummer hatte wie Isa, konnte einen gar nichts mehr aufheitern.
Bremsen quietschten. Isa schrak aus ihren Gedanken und sprang auf den Gehsteig zurück. Durch die Scheibe des Autos sah sie, wie der Fahrer schimpfte. Sie ermahnte sich: Reiß dich zusammen! Nach Hause mußte sie, obwohl sie überall lieber hingegangen wäre als heim zu den Eltern. Die stritten schon, wenn sie nur einen Zipfel voneinander sahen. Wie kann man sich nur so hassen? fragte Isa sich, die beiden müssen sich doch einmal geliebt haben. Isa litt darunter. Auch fand sie es nicht schön, keine Geschwister zu haben, mit denen sie stärker gewesen wäre. Immer stand sie als Prellbock zwischen den Eltern.
Gleichmütig setzte sie einen Fuß vor den anderen. Von den Gehsteigen flossen kleine Rinnsale, denn jetzt regnete es richtig los, es strömte nur so. Die Balkone tropften, die Bäume tropften. Ein gräßlicher Tag. Isa nieste. Gleich würde sie zu Hause sein. Vater würde am Tisch sitzen, die Serviette erwartungsvoll knetend, aber immer meckerte er am Essen herum und Mutter würde darüber wieder aufbrausen.
Isa kramte in ihrer Tasche nach einem Bonbon. Sie hatte immer Appetit. Süße Sachen ließen sie ihren Kummer vergessen, aber nur einen Augenblick. Noch vor einem Jahr hatte sie eine schöne Figur. Doch nun war sie ziemlich rundlich. "Wurst", nannten sie einige Mitschüler . Als David sie neulich vor der ganzen Klasse blamiert hatte und lieber mit der hübschen Margitta in die Eisdiele gegangen war, hatte ihre Schleckerei noch zugenommen. Isa seufzte laut.
"Hallo!" sagte jemand hinter ihr. Sie drehte sich um. Ach, das war nur Maria. Die geistig Behinderte hatte ihr jetzt gerade noch gefehlt.
"Ist ein tolles Wetter", lachte diese, "hörst du, der Regen singt!" Sie war ebenso alt wie Isa, ein schönes Mädchen mit langem Haar und großen blauen Augen, aber ihr Geist war der einer Fünfjährigen.
"Ich finde dieses Wetter scheußlich", stieß Isa patzig hervor, "einfach grauslich. Wie kann man es schön nennen? Und singen tut der Regen auch nicht!"
Aber nun hörte sie doch genauer hin. Tatsächlich, die Regentropfen sprangen auf den Deckeln einiger Mülltonnen herum, und das hörte sich wie Musik an, wie eine blecherne Regenmusik.
"Paß mal auf!" Maria lachte wieder, hob den Kopf, stellte sich mit offenem Mund hin und ließ den Regen hinein. "Schmeckt gut", sagte sie zwischendurch und begann das Spiel von neuem. Isa blickte sich nach allen Seiten um, und als sie sah, daß die Straße leer war, machte sie es dem Mädchen nach, öffnete den Mund und ließ die Wasserfäden hineinlaufen. Es machte Spaß. Sie kicherten beide.
"Tschüs", meinte Maria plötzlich, "muß nach Hause!" und ging ein wenig staksig auf ihren langen Beinen davon.
Isas trübe Stimmung hatte sich gebessert. Die Welt sah ganz anders aus, wenn man sie anlachte. Sie schloß die Haustür auf, warf die klitschnasse Schultasche auf den Steinboden der Diele und schälte sich aus der durchweichten Jacke. Kochdunst kitzelte ihre Nase. Sie würde heute nur die Hälfte von dem essen, was sie sonst verdrückte. Überhaupt, sie wollte versuchen einiges zu ändern. Die sollten alle sehen, wozu sie in der Lage war!
Mama und Papa gifteten sich schon wieder an. Isa riß das Fenster auf. Die rein gewaschene Welt duftete. "Seht mal, die Sonne kommt hervor", sagte sie ermunternd, "alles sieht wie verklärt aus. Die Regentropfen glitzern wie Diamanten."
"Isa, unsere Träumerin", die Mutter lächelte. "Wenn ihr doch auch das Schöne sehen würdet und nicht immer nur Schlechtes, dann ginge es uns allen besser", sagte Isa vorwurfsvoll, "vor allem mir wäre dann wohler. Was ist nur mit euch los? - Ihr macht mir Angst."
Und bei sich dachte sie erstaunt: Die behinderte Maria mit ihrer fröhlichen Art hat mich dazu gebracht, solche Worte auszusprechen. Ich habe mich getraut!
Die Eltern sahen erst ihre Tochter, dann einander erschrocken an. Stille lag im Raum, aber diese Stille war nicht von Zorn durchdrungen wie sonst, sie war irgendwie anders. Isa spürte Hoffnung.
"Du hast Recht, Kind", sagte der Vater nach einer Weile, "wir sind wirklich unmöglich."
"Ich habe Maria Weber getroffen", Isa lächelte, "die hat gemeint, daß der Regen singt. Und das stimmt." |
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