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Im Frühjahr 1948 verließ Ernst Wiechert den Hof Gagert in Wolfratshausen und emigrierte in die Schweiz. Seine zunächst guten Kontakte zu den Amerikanern, die in dem KZ-Häftling, der bis 1945 unter Gestapo-Aufsicht gestanden hatte, einen Vertreter des "anderen Deutschlands" sahen, hatten sich gewandelt, als er sich gegen die Entnazifizierungspraxis ausgesprochen hatte, und auch von deutscher Seite gab es Presse-Kampagne n gegen den Dichter. "Niemandem steht das Recht zu, den Dichter wegen seiner ‚Flucht aus Deutschland zu tadeln", warnt Hans-Martin Pleßke in dem Arbeitsbrief der Freundeskreis Ostdeutschland "Der die Herzen bewegt" (Hamburg 2003). "Wir wissen nicht, ob ihn bereits die Vorahnung des Todes zu einem solchen Schritt bewogen hat."
1949 unternahm Wiechert eine Lesereise in die USA. Diese Reise ist dokumentiert in Briefen, die er an Blanche Gaudenz schrieb. Am Nikolaustag 1948 war er der jungen Frau, einer Mutter von vier Kindern, die in der Nähe des Rütihofes am Zürichsee, des letzten Domizils des Dichters, wohnte, begegnet. Die 30 Jahre jüngere Frau wurde die Muse seines letzten großen Werkes "Missa sine nomine".
Der Dichter war bereits von einer schweren Krankheit gezeichnet. Daß er im August 1949 die Einladung der Universität Berkeley in Kalifornien annahm, eigentlich zu einer dreimonatigen Gastprofessur, die er aber auf eine einmonatige Lesereise verkürzte, mag als Abschied von seinem Publikum gedeutet werden, hier von einem Publikum "jenseits des großen Meeres", das aus Deutschland fliehen mußte. Diesen Menschen, so schildert es Prof. Dr. Albert A. Ehrenzweig von der Universität Berkeley, ehemals Privatdozent in Wien, habe Wiechert "ein neues Beginnen" gegeben. Zugleich machte Wiechert die beglückende Erfahrung einer überaus hohen Wertschätzung im Ausland, die sich bei seinen Lesereisen nach Wien und Holland im Oktober 1949 wiederholte.
Im November 1949 beginnt Wiechert, bereits unter großen Schmerzen leidend, mit der Niederschrift seines letzten Romans. "Ich weiß nicht, ob ich noch ein Buch schreiben werde", hatte Wiechert in "Jahre und Zeiten" gegrübelt, seinen Lebenserinnerungen, die um die Jahreswende 1948/49 erschienen. Nun schrieb er mit "Missa sine nomine" den ersten großen Vertriebenenroman der Literaturgeschichte.
Im Mittelpunkt stehen die Brüder von Liljecrona, die Freiherren Erasmus, Ägidius und Amadeus, die ihre ostdeutsche Heimat verloren haben und auf einem restlichen Familienbesitz in der Rhön wieder zusammenfinden. Erasmus berichtet von der Flucht. "Wir blieben da, bis die Panzer kamen. Man ließ uns auch nicht früher fort. Wir trieben das Vieh zusammen und beluden die Schlitten." Der Treck wird überrollt, Erasmus unter Beschuß genommen, flieht in ein Waldstück und leidet darunter, seine Gutsleute verlassen zu haben. Die Schreie verfolgen ihn. ",Herr Baron , hat es gerufen, ‚Herr Baron ... , und dann hat es nur ‚Herr ... gerufen, wie die
Gutsleute nur in tiefster Not zu rufen pflegten. ‚Herr ... Herr ... " "Vater würde sie nicht verlassen haben", antwortet er seinem Bruder, der ihn zu trösten versucht.
Der Treck wird von Christoph, dem herrschaftlichen Kutscher, angeführt, der auf dem vordersten Schlitten sitzt, "so feierlich, als ob er zur Kirche führe ..." Christoph, Bediensteter derer von Liljecrona wie schon sein Vater, sein Großvater und Urgroßvater, bleibt auch in der neuen Umgebung seiner Herrschaft treu. Die Gutsleute, die herausgekommen sind, finden im Moor eine neue Bleibe, weil "es dort riecht wie zu Hause", richten sich in Hütten ein, stechen Torf und legen Gemüsegärten an, "wie zu Hause".
"Zu den eindrucksvollsten Stellen des Buches gehören die im Leid geborenen Weisheiten des jüdischen Kleinhändlers Jakob und die Erzählungen des Kutschers Christoph an den Weihnachtsabenden", schreibt Hans-Martin Pleßke in dem Arbeitsbrief. Jakob gehört zu den "displaced persons", hat den Holocaust überlebt, aber seine Frau und zwei Kinder verloren, wohnt in einem Lager, handelt und bringt dem Freiherrn Amadeus öfter eine kleine Stärkung, wobei er ihm rät, "Platz zu machen" für Gott den Gerechten. Denn Amadeus wurde
denunziert und in ein Konzentrationslager verschleppt. Die Erinnerungen an die Hölle liegen schwer auf ihm, aber er verzeiht seinem Verräter und gibt viel Liebe.
Am 6. Dezember 1949 erhielt Blanche Gaudenz das erste Kapitel, am 1. März 1950 das letzte. Unmittelbar vor seinem Tode am
24. August 1950 konnte Ernst Wiechert das druckfrische Exemplar der "Missa sine nomine" in der Hand halten. Das große Buch der Versöhnung und des Glaubens war erschienen. P. Lautner
Dichter und Muse: Blanche Gaudenz wurde für Ernst Wiechert zur Muse seines letzten großen Werks "Missa sine nomine". |
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