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Obwohl der Selbstmord von der Obrigkeit nie moniert wurde, weder in unseren christlichen Geboten noch in anderen Religionen eine Abwertung zu finden ist, kam es zu einer weltweiten Verfemung der Eigentötung. Sie erstreckte sich über mehrere Jahrhunderte und ist heute noch nicht frei von Diskreditierung, eine Schande für die Zurückgelassenen, wenigstens ein Nachgeschmack des Suspekten verbleibt.
Auch bei uns im Preußenland war jeder Suizid einstmals eine heikle Sache, im besonderen für die Hinterbliebenen. So war das Verbot, einen Selbstmörder in geweihter Erde begraben zu dürfen, sondern ihn allein der Pathologie zu übereignen, gültig. Der Gesetzgeber, mehr Handlanger dieser Anmaßung - denn die Kirche in ihrer unendlich christlichen Nächstenliebe entschied über würdiges oder unwürdiges totes Fleisch -, achtete dieses Verbot mit Genauigkeit.
Nun ist der Berliner pfiffig, wie wir wissen, und kurzerhand suchte er sich ein Plätzchen im Grünen, abgelegen, eher versteckt, um dennoch seine Lieben, die sich selbst getötet hatten, in Gottes Acker einbringen zu können. Diese Selbsthilfe sprach sich schnell herum und ließ sich auf Dauer schon gar nicht verheimlichen. Selbstmörder vollzogen ihren Freitod nicht selten in der Nähe des Geländes. Nun oblag es dem Forstfiskus wiederum, aufgefundene namenlose Leichname auf seine Kosten zu bestatten. Zudem wurden in der Umgebung der kleinen Bucht der Havel, wohl von der Strömung begünstigt, mehrfach Wasserleichen angespült, für die man ebenfalls verantwortlich war. Darum gesellte man sich kurzerhand zu dem bereits geschaffenen Örtchen hinzu und legalisierte die Sache, indem man 1845 nun großzügig der Humanität Rechnung trug, die Selbstentleibung als Verbrechen aufhob und die Kosten zu diesem Punkt der Forstkasse antrug. Allerdings blieb die Beisetzung vorerst gebührenfrei.
Um die wilden Bestattungen nun zu unterbinden, befestigte man einen Maschendrahtzaun um das Gelände, das man 1928, um Ansehen und Aussehen des Ortes zu verbessern, in Form einer Mauer neu umzäunte. Man errichtete ein Tor, welches in einen vier Meter hohen Bogen eingelassen wurde, verlieh der Tür eine Rosettenverzierung und schuf darüber eine Holzüberdachung. Erst nach einem längeren Fußweg findet man diesen Friedhof der Namenlosen. Er liegt in der Nähe des Schildhornweges im Jagen 135 im Bezirk Berlin-Grunewald. Fast versteckt, idyllisch gelegen.
Das Publikum der Einlieger hat sich im Laufe der Jahre allerdings mannigfaltig gemischt. Forstangestellte und ihre Familienmitglieder liegen, wenn auch gesondert, hier, Unfallopfer, Todesopfer aus einem nahe gelegenen Strafgefangenenarbeitslager aus der Zeit des Ersten Weltkrieges, namenlose Tote, die auf den Straßen Berlins während der letzten Tage des Zweiten Weltkriegs gefunden wurden, aber auch ganz normale Menschen, denen dieser Ort, dieser Friede im Wald zusagte.
Selbst Persönlichkeiten kann der Friedhof "bieten", etwa den Schriftsteller Clemens Laar, der unter anderem "Meines Vaters Pferde" schrieb. Dieses Buch war in vielen ostdeutschen Haushalten zu finden, auch in meiner Familie existierte es. Laar wählte den Freitod, während Willi Wohlberedt, ausgezeichnet mit einem Ehrengrab, hier seine letzte Ruhestätte für seine Frau und sich, allein aus großer Zuneigung des Ortes wegen wählte. Wohlberedt war bekannt und erhielt die Ehrung, weil er über 40 Jahre Gräberforschung auf Berlins Friedhöfen betrieb und diese in einem vierbändigen Werk festhielt. Nur Glückspilze können diese Hefte vereinzelt noch antiquarisch erstehen. Dann finden wir hier noch die Pop-Ikone Nico und den sehr bekannten Rundfunksprecher Götz Clarén.
Sehr angenehm berührt hat mich, daß man den Wasser- leichen, die aus der Havel ge-fischt wurden, einen liebevollen Schleier umlegte, indem man sie zuweilen als "Opfer der Kälte" bezeichnete oder das Wort "Verunglückt" auf das Kreuz schrieb. Eine Mutter trauert um ihren 19jährigen Sohn, der unbekannt bleibt: "Geliebt - beweint/ Mein frühes Grab, mein frühes Grab/ drum Mutter ruf mich nicht zurück/ ich lebe noch und liebe Dich/ in diesem schönen Himmelslicht."
Und wenn man sich Mühe gibt, die Schrift zu entziffern, die auf dem Holzkreuz von Laar geprägt wurde, ergibt sich der Text: "Mitten im Reiten/ Aus Sonnenseiten/ Erreicht Dich der Ruf./ Und der, der Dich schuf,/ Greift milde nach Dir./ Doch was Du gelebt,/ Es bleibt zurück./ Vom Jubel im Sprung,/ Vom Glühen und Schwung,/ Ein letztes Funkeln/ Im Bügeltrunk./ Und das lachende Wissen,/ Daß Gott uns liebt,/ So lange es auf Erden/ Die Pferde gibt."
Wer ein bißchen Neigung und Muße für Friedhöfe dieser Art hat, ebenso einen Spaziergang von etwa 40 Minuten nicht scheut, wird auf seine Kosten kommen und ein seltenes Kleinod finden. Mich hat dabei noch interessiert, ob hier auch jemand aus Ostdeutschland beigesetzt wurde. So fragte ich den Herrn, an dessen Führung ich teilnahm.
"Weiß nicht", antwortete dieser ein wenig überrascht, jedoch nach einer kleinen Pause, "ich denke schon, Ostdeutschland findet man überall." Dem werde ich natürlich nachgehen, und wenn alle Stricke reißen, mich selbst einbringen, um so mehr ich zwar zufrieden sein muß, wenn ich abberufen werde, aber mir andernfalls auch vorgenommen habe, dieses selbst zu entscheiden, wenn mir etwas im Leben unwürdig erscheint. Eigentlich wollte ich meine Asche verstreuen lassen, aber um sein Vaterland zu vertreten, macht man schon mal Kompromisse.
Ein interessantes Buch zu diesem Thema hat Carl-Peter Steinmann geschrieben: "Von wegen letzte Ruhe! - Ausgrabungen", Transit Verlag, Berlin. 160 Seiten, 20 sw Abb., geb. 14,80 Euro. Hella Leuchert-Altena
Ort der Stille: Eingang zum Friedhof der meist unbekannten Toten |
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