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Montagmorgen. Auf dem Bahnsteig ist es kalt und zugig. Stefan stellt den Kragen seiner Jacke hoch. Er seufzt. Immer das gleiche: Man steht sich die Beine in den Bauch, bis die Bahn um die Ecke biegt, und bis Köln muß man dann auch noch stehen.
Heute erwischt Stefan einen Fensterplatz, sinkt auf die Bank und schließt die Augen. Er hat schlechte Laune! Gleich in der ersten Stunde hat er Mathe, und er haßt Zahlen. Seine Fächer sind Deutsch, Musik und Kunst. "Träumer", schimpft ihn seine Mutter oft, "mach die Augen auf, sonst kriegst du nie ein Mädchen ab!"
Stefan ist 17 und hat noch keine Freundin. Und er hätte gern eine. In seinen Tagträumen stellt er sich immer ein Mädchen mit grünen Augen und Sommersprossen vor, die mit ihm durch die Felder geht und eine Mohnblume für ihn pflückt, oder zwei. Rote Haare müßte sie haben ...
Er öffnet die Augen und stutzt. Ihm gegenüber sitzt ein Mädchen. Und sie ist hübsch. Wie alt mag sie sein? Vielleicht 16? Sie hat helle graue Augen mit ein paar Sprenkeln Grün darin. Und tatsächlich - er beugt sich ein wenig vor - auf ihrer Stupsnase drängeln sich Sommersprossen. Die Farbe ihres glatten Haares ist zwar rabenschwarz, aber einige gefärbte Strähnen leuchten darin wie rote Bänder. Der Junge starrt sie an. In seinem Magen kribbelt es plötzlich. Sie aber schaut unbeteiligt durch das Fenster ins Freie, wo Bäume und Häuser vorüberwischen.
Ach, wenn er sie doch ansprechen könnte! Aber er weiß, es geht ja nicht. Dieses Mädchen mit den lustigen Sommersprossen auf der Stupsnase wird gleich aussteigen und davongehen, und er sieht sie nie wieder. Dabei ist sie genau die Frau, mit der er durch die Felder streifen möchte. Er würde ihr Mohn- oder Kornblumen pflücken, falls welche da wären. Und sicher würde sie sagen: "Mm, hier riecht es ja so schön!"
Stefan seufzt leise. Wie kann er sie nur dazu bringen ihn wahrzunehmen, ihm sogar zuzuhören? - Aber das geht ja nicht.
Er wird unruhig. Gleich rollt der Zug in den Hauptbahnhof ein, und dann ist sein Traum endgültig ausgeträumt.
Da sieht sie ihn an, kurz aber freundlich. Er lächelt. Bitte, sprich mit mir! fleht er in Gedanken, versucht sie zu hypnotisieren. Doch schon guckt sie wieder weg.
Der Zug wird langsamer. Hastig klappt er seine Tasche auf, holt mit zitternden Fingern Block und Kuli heraus. Deutlich muß er schreiben, damit sie seine Schrift lesen kann! Er gibt sich Mühe.
Der Zug hält. Das Mädchen springt auf und ist schon an der Tür. Ein paar Jungen schieben sich zwischen sie und ihn. Er hat eine heiße Angst, sie zu verlieren, und windet sich aalglatt durch das lebendige Knäuel im Gang.
An der Treppe erwischt er sie noch, schaut sie bittend an, gleichzeitig reicht er ihr den beschriebenen Zettel. Sie weicht etwas zurück, zieht die Stirn in Falten. Doch dann liest sie und ihre abweisende Miene wird etwas weicher.
Vier Sätze in Druckbuchstaben: "Ich möchte dich gerne kennenlernen! Aber ich bin taubstumm! Habe zwar gelernt zu sprechen, doch das klingt fürchterlich. Du kannst mir antworten, ich kann von den Lippen lesen." Darunter sein Name: "Stefan" und ein dickes "Bitte!!!"
Sie sieht unschlüssig aus. Das Herz klopft ihm hart in der Brust. Und schon weiß er, das wird nichts! Wer will schon mit einem Taubstummen befreundet sein?
Als habe sie seine Gedanken gehört, nimmt sie ihm den Kuli aus den Fingern und malt etwas auf seinen Handrücken. Sein Herz macht Luftsprünge. Da steht ihr Name: "Biggy Voss". Von ihren Lippen liest er: "Morgen drei Uhr - hier!"
Er nickt. Ihre goldbraunen Sommersprossen machen sich plötzlich selbstständig und tanzen vorwitzig auf ihrer Nase herum. Und darüber leuchten ihre grauen Augen mit den grünen Sprenkeln.
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