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          „Hamit – Tagebuch 1990“ heißt das aktuelle Buch des  eigenwilligen Autors Walter Kempowski. „Hamit“? Nein, der Titel weist nicht auf  einen Roman aus dem Orient hin, wie man vielleicht vermuten mag, sondern der  Begriff ist deutsch. „Hamit“ sagen die alten Erzgebirgler, wenn sie von ihrer  Heimat reden. Also erzählt uns der Autor von seiner vor Jahrzehnten verlassenen  Heimat anhand seines Tagebuches von 1990? Ja – und nein! 
   Kurz nach dem Mauerfall fuhr der unermüdliche Archivar von  fremden Lebensaufzeichnungen (unter der Bezeichnung „Echolot“ fragmentarisch  veröffentlicht) auf den Spuren seiner eigenen Kindheit, in seine Heimat nach  Rostock. Begleitet von seinem Bruder durchwanderte er die inzwischen sehr  verfallene Stadt. Die nun veröffentlichten Tagebuchaufzeichnungen geben seine  Eindrücke von damals wieder. Doch es sind keineswegs nur nüchterne  Erlebnisaufzeichnungen. Kempowski, berühmt für seinen collageartigen  Schreibstil, baut die verschiedensten Elemente in seine Tagesbeschreibungen ein.  Kurze politische Nachrichtenmeldungen, sein Streß mit der Presse, neue Post für  sein Archiv, Gesprächsthemen mit seiner Frau, Zitate berühmter Persönlichkeiten;  was anfangs ein wenig sprunghaft    wirken mag, vermittelt erst ein Gesamtbild von  Kempowskis Umwelt, seiner „Hamit“. „Flauberts Briefe. Als die Preußen 1871  abgezogen sind, möchte er sein Haus am liebsten abbrennen, so eklig ist es ihm.  Ein Toiletten-Necessaire haben sie ihm ,stibitzt‘ und einen Karton Pfeifen.  ,Aber im ganzen haben sie kein Unheil angerichtet‘, schreibt er. – Gott sei  Dank. Man würde sich heute noch schuldig fühlen.“
   Noch zu DDR-Zeiten wird der umstrittene westdeutsche  Schriftsteller jenseits seines alten Wirkungsfeldes herumgereicht. Kempowski,  der acht Jahre in Bautzen einsaß, muß allerdings erleben, wie weder West noch  Ost an einer Aufklärung der Untaten des DDR-Regimes interessiert sind. „Herr  Lafontaine hat heute das Christentum mit dem Sozialismus verglichen. Man schaffe  das Christentum ja auch nicht ab, trotz Kreuzzügen und Hexenverbrennung, warum  als nicht einen neuen Anfang mit dem Sozialismus machen?“ Derartige  Politikeräußerungen kann Kempowski gar nicht unkommentiert lassen. Auch  Bemerkungen des damaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten Gerhard Schröder  und der damaligen Bundestagspräsidentin Rita Süßmuth lassen den 1929 geborenen  Rostocker erschauern. Vor allem die Aussage Süßmuths, daß sie von allen  geschichtlichen Gestalten am meisten Hitler und Stalin verachte, läßt der  Intellektuelle nicht unkommentiert stehen. „Was haben die davon, wenn sie sie  verachtet? Warum nennt sie nicht Krenz und Mielke? Die existieren doch noch.“  Schlußendlich bedauert Kempowski, daß die westlichen Sympathisanten des  DDR-Regimes keine Parteiabzeichen getragen haben.
   Schwungvoll läßt der in Norddeutschland eine neue Bleibe  Gefundene das Wendejahr 1990 wieder auferstehen. Dabei erinnert er an längst  vergessen, häufig skurrile Zwischenfälle und öffnet dem Leser die Augen für  Dinge, für die er damals, als er mitten im Geschehen stand, blind war. 
   „Hamit“ wird nie anstrengend zu lesen, da der Autor immer  wieder kleine Anekdoten aus seinem Beruf schildert und dabei durch sein  sympathisches, loses Mundwerk begeistert. „Die Firma Faber-Castell bedankt sich,  daß ich ihre Bleistifte im ,Zeit‘-Magazin lobend erwähnt habe … Sie hätten mir  ruhig eine Schachtel Bleistifte schenken können. Für Geschenke bin ich immer zu  haben.“
   Das Buch endet Silvester 1990. „Heimat, theure Heimat, dir  nur allein gilt all mein Sehnen, all mein Sein …“, zitiert Kempowski. „Heimat  können wir abhaken. Geblieben ist das Heimweh“, lautet sein ernüchterndes Fazit  nach seinen Erlebnissen der vorausgegangenen 365 Tage. (Fritz Hegelmann)
   Walter Kempowski: „Hamit – Tagebuch 1990“, Knaus, München  2006, geb., 430 Seiten, 24,95 Euro 5558  | 
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