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Es war in den Tagen vor Heilig- abend, wo die Menschen schon der Hektik verfallen sind, aus Angst, sie könnten etwas vergessen zum Verschenken. Die Tage dunkelten früh, die Luft war scharf und oft der Himmel so grau, daß man meinte, die Sonne hätte es ganz vergessen zu scheinen. Vom Rhein herauf kam ein naßkalter Wind. Ganz feine Schneeflocken stäubte er auf die Straße. Diese kam von der Universität und führte durch eine Unterführung bis an das ehemalige kurfürstliche Jagdschloß. Oben donnerte die Bahn und weckte Sehnsüchte nach der Ferne.
Wie jeden Tag saß der alte Mann auf dem kalten Betonfußboden im eisigen Wind, aber er hatte wenigstens ein Dach über dem Kopf. Neben ihm schlief sein Hund, auch ohne schützende Decke, in der Kälte lag er da und blinzelte ab und zu die Passanten an, die dort vorbeihasteten. Meistens waren es Studenten, die wenig auf den blickten, der da an der Mauer saß, vor ihm ein kleines Tellerchen, das auf wenige milde Gaben wartete. Die Studenten bemerkten es nicht, sie waren jung und hatten keine Zeit. Fahrräder klingelten, obwohl es verboten war, dort zu fahren, und die Fußgänger sprangen dann erschrocken zur Seite. Fast niemand bückte sich zu dem Tellerchen, das vor dem Grauhaarigen stand, der ab und zu auf einer Mundharmonika wehmütige Lieder spielte, doch niemand hörte hin, die Welt ringsum war laut.
Ein schäbiger Mantel sollte den Alten schützen vor dem hereintreibenden Schnee und dem eisigen Wind. Ein Dach über dem Kopf hatte er ja, das war die Unterführung. Neben ihm ein Kiosk mit chinesischen Speisen, deren Düfte verlockend in die Nase zogen. Vielleicht fiel für ihn und den Hund mal ein Schälchen Reis ab, Chinesen sind ja freundliche Leute. Ein Gestrandeter des Lebens war er, und die Mutter hatte es ihm sicher nicht an der Wiege gesungen, in welchem Elend er nun gefangen war, denn welche Mutter wünscht schon so etwas ihrem Kind ...
Eine der vorbeihastenden Fußgängerinnen war eine ältere Dame. Jeden Tag ging sie an ihm vorbei, sie waren fast schon Bekannte, die sich nur mit den Augen grüßten. Weil es nun weihnachtete, sollte diesmal ihre Gabe etwas größer ausfallen als täglich üblich. Da klirrten nun ein paar größere Geldstücke in dem Schälchen vor ihm, daß der Mann fast erschrocken aufblickte und rief: "Madamchen, Madamchen, warten Sie doch mal, bleiben Sie stehen." Er sagte es in seinem breitesten Ostpreußisch, und da sie als junges Ding auch mal dort gewesen war, klang der Dialekt so vertraut und weckte plötzlich Sehnsüchte nach dem schönen, so fernen Land.
Sie beugte sich nieder zu dem, der vor ihren Füßen da auf der Erde saß, und er sagte leise: "Ich möchte Ihnen auch mal was schenken!" Sie fragte ihn, woher er denn gekommen sei, bevor ihn das Leben auf die Straße trieb, da meinte er: "Aus dem Ermland" und seine Augen wurden ganz weit, als ob sie in der Ferne etwas suchen wollten. "Und nun bin ich am Rhein", und er zeigte auf die kalte Erde, die nun seine Heimstatt war. Ein Bauernjunge sei er gewesen, und dann kam die Flucht und sein Muttchen sei irgendwie, irgendwo verlorengegangen und er allein zurückgeblieben und nuscht habe er mehr gehört und gesehen von ihr.
Dann holte er seine Mundharmonika aus seiner Manteltasche, auf der er ja hin und wieder ein Liedchen spielte, wenn er nicht gerade vor sich hindöste. Und er fing an zu spielen: "Maria breit den Mantel aus". Ein altes Kirchenlied, zuerst klang es leise, dann immer lauter und die Leute blieben plötzlich stehen und hatten Zeit. Viele kannten es wohl, denn es war ja eine katholische Stadt; sie summten mit und sangen mit, und der Kreis der Zuhörer wurde immer dichter. Sogar die eiligen Studenten hatten mit dem Fahrradgeklingel aufgehört und in dem kalten Rheinwind kam eine feierliche Stimmung auf, die im hohen Münster nicht schöner sein konnte, von dem um zwölf Uhr nun die Glocken läuteten. Da sangen sie, und oben rauschten die Züge über den Köpfen wieder in die unendliche Ferne. Dann hörte er auf zu spielen, und so manches Geldstückchen fiel nun in das Schälchen, viel mehr als es sonst war. Man hatte Zeit für sein Lied gehabt und ringsum war es auf einmal Weih-nachten geworden. In manchem Auge schien ein feuchter Glanz zu schimmern.
Die ältere Dame sagte: "Ich danke Ihnen, Sie haben mir ein sehr schönes Weihnachtsgeschenk gemacht, und den anderen auch." Da stand der Mundharmonikaspieler plötzlich auf und fragte: "Darf ich Ihnen die Hand geben?" Sie zögerte nicht, sie ihm zu reichen. Er machte eine formvollendete Verbeugung und murmelte: "Wie frieher bei der Gnädijen"...
Damit endete die Begegnung. Maria hatte den Mantel ausgebreitet und darunter war es warm geworden, so warm wohl wie einst bei seinem verschollenen Muttchen am Ofen in Ostdeutschland . |
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