|
Potulice, Trutzhain, Barrehead in Kanada sowie Indiana und Phoenix in den USA, das sind die wichtigsten Schauplätze auf denen sich das Leben von Martha Kent abgespielt hat. Doch der eigentliche Ort, den sie in ihrem Herzen immer bei sich führte, ist Potulice, genauer noch, das dortige Gefangenenlager für Deutsche nach dem Krieg. Hieran hat Martha Kent ihre ersten bewußten Erinnerungen. Da sie damals nichts anderes kannte, war Potulice für die kleine Martha keineswegs genauso grauenvoll wie für ihre Mutter, die die meiste Zeit in einer Nachbarbaracke inhaftiert war. Für Martha war es selbstverständlich, daß Kinder, die am nächsten Morgen nicht mehr in ihrem Bett waren, wohl in der Nacht gestorben und irgendwo verscharrt worden waren. Und als ihre Mutter plötzlich verschwand, gab es für das Mädchen gar keine andere Vorstellung, als daß diese nun auch verstorben sei. Eine Welt außerhalb des Lagergeländes gab es nicht in Marthas Welt.
Die Autorin Martha Kent beschreibt sehr bedrückend aus der Sicht des Kindes das Leben in Potulice. So verschenkte das Kind beispielsweise nur für einige freundliche Blicke einer ihrer Mutter ähnelnden jungen Frau Teile seiner lebensnotwendigen Essensration.
Als sich herausstellte, daß Marthas Mutter lebte und auch der Vater und die Geschwister die Widrigkeiten von Gefangenschaft und Zwangsarbeit an verschiedenen Orten überstanden hatten, reiste die Familie 1949 in den Westen. Schnell zeigte es sich aber, daß die Freiheit auf ihre Weise noch beängstigender sein kann, als die Jahre in Gefangenschaft.
"Wir sind Flüchtlinge - ist das denn ein Verbrechen - sind wir denn an allem Schuld? Das ist wie eine Peitsche, nur das du nicht einmal die Striemen auf deinem Rücken zählen kannst", stellt Marthas Mutter verbittert fest, und so wandert die Familie in der Hoffnung auf ein besseres Leben nach Kanada aus. Hier hingegen sind sie nicht mehr nur die Flüchtlinge sondern auch die "bösen Deutschen", und das diese auch gelitten haben, will keiner wissen. Nur durch Verdrängung ihrer Herkunft findet sich die Familie in ihrer neuen Heimat zurecht. Martha jedoch schafft es nicht, sich zu integrieren, stets ist sie eine Außenseiterin, versteckt sich hinter ihren Büchern. Hier hofft sie, die Welt verstehen zu lernen und Worte für ihre Angst zu entdecken. Das Studium der Psychologie führt sie in die USA, doch in das sorglose Leben ihrer Mitmenschen kann sie sich nicht eingliedern. Zwar findet sie einen verständnisvollen Ehemann, aber auch ihm erzählt sie nicht von ihrer Zeit in Potulice. Lange gelingt es Martha Kent, die Geister ihrer Vergangenheit zu verdrängen, bis sie 1985 einem Patienten begegnet, der sie an ein Kriegsopfer erinnert. Plötzlich ist alles über Jahrzehnte scheinbar Verbannte ganz frisch und die Psychologin muß selbst in eine psychiatrische Klinik.
"Eine Porzellanscherbe im Graben" schildert eindringlich den Kampf einer Frau, die Schrecken ihrer Kindheit auszulöschen. Obwohl selbst Psychologin, stellt sie sich nicht ihrer Vergangenheit und wird eines Tages von dieser gewaltsam eingeholt. Ihr ganzes Leben lang hat sich Martha Kent minderwertig gefühlt. Durch besondere berufliche Leistungen hat sie versucht, sich als ein für die Gesellschaft wertvolles Mitglied zu erweisen. Die Belastung hat sie beinahe ihren Verstand gekostet, aber in dem Moment, wo sie anfing, ihr Schicksal in eigene Worte zu kleiden, ging sie gegenüber ihren Ängsten in die Offensive. "Eine Porzellanscherbe im Graben" ist das Ergebnis eines Heilungsprozesses einer an Flucht und Vertreibung erkrankten Seele. Das Buch zeigt auf ergreifende Weise, wie manche Menschen der Erlebnisgeneration noch heute versuchen, die Folgen des Zweiten Weltkrieges für sich im Stillen zu bewältigen. Fritz Hegelmann
Martha Kent: "Eine Porzellanscherbe im Graben - Eine deutsche Flüchtlingskindheit", Scherz Verlag, Bern 2003, geb., 336 Seiten, 19,90 Euro |
|