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Nüchtern klingen die Sätze, die vier Jahrzehnte nach der Flucht über die Ostsee aufgeschrieben worden sind. Eine Schwester vom Roten Kreuz wurde im Januar 1945 nach Pillau zur Betreuung der Flüchtlinge auf den Schiffen geschickt. "Wir gingen auf die ‚Pretoria ", berichtet sie. "Auf diesem Schiff waren 1.000 U-Boot-Fähnriche in Ausbildung und zirka 3.000 bis 4.000 Flüchtlinge. Die Fähnriche versorgten die Menschen mit Kaffee und Suppen, und wir übernahmen den Sanitätsdienst. Als Arzt hatten wir einen Kriegsbeschädigten (Beinamputation) aus Allenstein ... wir fuhren vom 25. Januar bis 30. Januar 1945 nach Stettin. Während dieser Tage wurden bei uns, so weit ich mich erinnern kann, sechs Kinder geboren. Nach der Geburt kamen unsere beiden Kapitäne, gratulierten der Mutter und brachten ihr die Urkunde mit ... Unsere letzte Wöchnerin bekam noch Kindbettfieber, und dafür fehlten natürlich die nötigen Medikamente ... Gott sei Dank brachten wir alle Mütter mit ihren auf dem Schiff geborenen Kindern gut nach Stettin, wo sie vom Roten Kreuz abgeholt wurden und in die Klinik kamen."
Es wurden sechs Kinder auf dieser Fahrt geboren. Jede dieser Geburten bietet Stoff für einen Roman oder für einen erschütternden Film. Spätestens seit dem Buch "Im Krebsgang" von Günther Grass, das den Untergang der "Gustloff" schildert, weiß eine breite Öffentlichkeit um die Katastrophen, die sich bei der Flucht über die Ostsee abspielten. Bei Günther Grass bekommt die Mutter, die in dem Augenblick, als die "Gustloff" hell erleuchtet sinkt, in einem Rettungsboot ihr Kind gebiert, 19jährig weiße Haare. Sie trägt das Stigma fortan "wie eine Trophäe".
Seelisch stigmatisiert, traumatisiert waren wohl alle, die diese Reisen zwischen Hoffnung und Todesangst machten. Über das Grauen wurde später kaum gesprochen. Ein millionenfaches Trauma therapiert man nicht.
Die Dichterin Agnes Miegel verließ am 27. Februar 1945 ihre "gekrönte Vaterstadt" mit dem Schiff "Jupiter". Ein Sturm verursacht in dem "Menschenspeicher" die Seekrankheit, und sie schrieb: "Eisiges Grauen überkroch mich vor der Dunkelheit draußen, vor dem Rauschen und Spritzen des Wassers, vor dem heulenden Sturm. Dort in diesem höllischen Lärm lauerte der Tod, der stille, schreckliche Tod, der stumm wie eine Schlange in der Tiefe heranjagte, mit der feurigen Zunge den eisernen Schiffsleib durchschnitt, und uns alle hinunterzog in den ‚nassen Tod, ein armes Geklumpe und menschlichen Jammers."
Wie man "herauskam", war egal, Hauptsache, man ergatterte einen Platz auf einem der Rettungsschiffe. Eine Hochschwangere kam auf ein Frachtschiff ohne Kabinen und Betten, aber als die Geburt nährerrückte, überließ ihr der Kapitän sein eigenes Bett. Zwei Ärzte wurden ausfindig gemacht, die die Entbindung auch erfolgreich durchführten. Dann stellte sich heraus, daß es Tierärzte waren. Der Mensch bewährt sich auch in Extremsituationen einen Sinn für Komik. "So groß ist der Unterschied zwischen Mensch und Schwein auch nicht!", stellte einer der beiden Ärzte jovial fest.
Wer überlebt hatte, war nach Jahren noch erstaunt und dankbar. "Nach 40 Jahren sind die Wunden zwar verheilt. Es blieben Narben. Sie schmerzen noch heute", sagte die Mutter eines auf der "Pretoria" geborenen Sohnes, die dankbar für das gesunde und im Leben erfolgreiche Kind war.
Wie erging es den Kleinsten, den Neugeborenen und Kleinkindern, die das Inferno nicht bewußt miterlebten? Hat es Nachwirkungen hervorgerufen? Die Flucht über die Ostsee prägte die nachfolgende, heranwachsende Generation. Zum einen waren es Erzählungen, immer wiederholte Details. Da erinnerte man sich an die Überfahrt nach Dänemark im Februar 1945, die 14 Tage dauerte. Der Säugling bekam eine schwere Ernährungsstörung, weil es keine Babynahrung auf dem Schiff gab. Man konnte froh sein, wenn man auf dem überfüllten Schiff eine Kabine erhielt, Privileg für Mütter mit Kleinkindern und Wöchnerinnen. Verwundete lagen in den Gängen. Der immer wiederkehrende Satz: "Ohne die Marine wären wir nie herausgekommen!" Aber auch das Unausgesprochene wurde weitergegeben. Welche Ängste stand man aus, wenn man hier auf kleine Kinder oder schwache Eltern achten mußte? Welche Sorgen trug man mit sich um Mann oder Sohn im Feld? Welche Verzweiflung packte die Seele bei dem Gedanken an die ungewisse Zukunft? Wie fühlte man sich als Bettler, Obdachloser, Vagabund? Der Heranwachsende wagte nicht zu fragen.
60 Jahre sind vergangen. Die Frauen, die damals schwanger und mit kleinen Kindern auf die Schiffe gingen, leben heute größtenteils nicht mehr. Die Säuglinge von damals sind heute Großeltern. Das Interesse an den Schicksalen aber flammt immer wieder auf. "Man kann nicht den Menschen verhöhnen und meinen, es treffe den Menschen nicht ..." (Max Frisch). Es trifft alle Menschen. P. Lautner
Alle Zitate (außer Agnes Miegel) sind dem Buch "Auf der Flucht geboren", Leer 1996, entnommen. |
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