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Als naturwissenschaftliche Disziplin arbeitet die Anthropologie grundsätzlich mit naturwissenschaftlichen Methoden. Nur an den Randgebieten greift sie über ihre eigenen methodischen Grenzen hinaus und benutzt Resultate, die auf geisteswissenschaftlicher Grundlage gewonnen worden sind. Die quantitativen Analysen führen im Verein mit qualitativen Feststellungen zu einer Annäherung an ein gesamtheitliches Erfassen des Menschen in seiner Erscheinungsvielfalt. Die erste Grundlage bildet die vergleichende und die spezielle menschliche A n a t o in i e, die vergleichende und die spezielle menschliche Physiologie. Auf den Ergebnissen dieser Forschungsrichtungen bauen sich die Verfahren zur Charak terisierung der individuellen und gruppentypischen Unterschiede auf. Sehen wir von den ersten deskriptiven Versuchen ab, die Erscheinungsform der menschlichen Physis und ihrer Variabilität zu erfassen und iu gliedern (Blumenbach u. a., Geschichte der Anthropologie), so wird im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jhs. eine exakte, quantitative Methode entwickelt (K e t z i u s, Virchow, Manouvrier, Topinard, Sarasin u. a.); es werden besonders die Methoden der Messung des Skelettes und des lebenden Menschen und ein dafür geeignetes Instrumentar geschaffen und genormte Vergleichsverfahren zur Erfassung von Formen, Farben und physiologischer Varianten ausgearbeitet. Klassiker der modernen anthropologischen Methodik ist Rudolf Martin, dessen Lehrbuch der Anthropologie erstmals 1914 erschien und der gesamten internationalen Anthropologie als Grundlage für exakte Arbeitsweise diente. Noch heute stellt es, wenn auch vielfach ergänzt und weitergebildet, die Basis dar.
Am Anfang der quantitativen Untersuchungsverfahren steht nach wie vor die Messung, die Anthropometrie. Sie erfaßt einmal die absoluten metrischen Verhältnisse und macht diese absoluten Meßwerte durch Inbeziehungsetzen (I n d i c e s() relativ und vergleichbar. Die Anthropometrie, die reine Messung, Technik also, führte durch Übertreibung ihrer Methode zu einer Überbewertung ihrer Aussagekraft. Die Gewinnung ausgedehnter Zahlentabellen bis auf die zweite oder gar dritte Dezimale exakter Meßwerte wurde vielfach mit wissenschaftlicher Erkenntnis verwechselt. Heute hat eine Methodenkritik (E. Fischer, v. Eickstedt) zu einer Reduzierung der Bewertung rein anthropometrischer Ergebnisse geführt. Das darf aber nicht dazu verleiten, die Anthropometrie überhaupt als wertlos hinzustellen. Selbstverständlich ist eine exakte, mit peinlicher Genauigkeit durchgeführte Vermessung des Untersuchungsmaterials erste Forderung. Die anthropometrische Technik ist schwierig, und die Fähigkeit, sie auszuüben, kann nicht autodidaktisch erworben werden. Viele Fehlurteile, besonders in früherer Zeit, sind durch eine unzureichende Meßtechnik entstanden. Nicht vergessen werden darf, daß mit der Vermessung nicht mehr erreicht werden kann als eine exakte quantitative Kennzeichnung der untersuchten Objekte. Auf dieser exakten Grundlage aber bauen sich dann die weiteren Untersuchungsverfahren auf bis zu denen der Psychologie. Mit der Metrik wird aber noch keine Aussage über die M o rp he, die lebendige Form des Gegenstandes gemacht, nichts von deren plastischem Gesamteindruck • (v. Eickstedt) erfaßt. Eine Physiognomie z. B. ist metrisch nicht erfaßbar. Das metrische Verfahren hat sich, schon im 18. Jh., mit der Anlage der großen Schädelsammlungen (das klassische Vorbild ist hier B l u m e n b a c h mit seiner großen Sammlung von Rassenschädeln, die in Göttingen aufbewahrt wird) zunächst als Kraniologie (Schädelrneßlehre) entwikkelt. Bald aber wurde auch das postkraniale Skelett und die Verfahren der Messung auch am Lebenden einbezogen, so entstanden die Osteometrie (Knochenmeßlehre) und die Somatoietrie (Lehre von der Vermessung des lebenden Menschen). Unter Anthropometrie wird heute also allgemein Vermessungslehre verstanden. Am Schädel wurden eine große Zahl in ihrer Bedeutung allerdings durchaus nicht gleichwertiger Meßpunkte vereinbart, sie werden in der internationalen Forschungsarbeit allgemein verwendet. Im folgenden geben wir eine Auswahl von Meßpunktenam Schädel und amSke1ett, die meist mit Sicherheit (aber nicht in allen Fällen) eindeutig festzulegen sind (Ziffern nach Martin 1928).
Punkte für Längsmaße am Schädel (vgl. 45):
(9) Glabella: Der am weitesten vorspringende Punkt zwischen den oberen Augenhöhlenrändern. (11) Bregma: Kreuzungspunkt von Sagittal- (Pfeil-) Naht und Coronal- (Kranz-) Naht. (15) Inion: Schnittpunkt der Lineae nuchae superiores (obere Begrenzung des Ansatzes der Nackenmuskeln) mit der Mediansagittalen (nicht immer leicht zu bestimmen). (14) Opisthocranion:
Der am weitesten nach hinten vorspringende Punkt des Hirnschädels. (25) Basion: Schnittpunkt des Vorderrandes des Foramen magnum mit der Mediansagittalen. (8) Nasion: Kreuzungspunkt der Nasen-Stirnnaht mit der Mediansagittalen. (i) Prosthion: Punkt am Alveolarrand des Oberkiefers zwischen den Schneidezähnen. (19) Gnathion: Tiefster Punkt am unteren Unterkieferrand.
Punkte für Quermaße am Schädel:
(24) Orale: Mittlerer Punkt zwischen den Hinterrändern der. Alveolaren der Schneidezähne. (12) Euryon: Am weitesten seitlich vorspringender Punkt am Hirnschädel. (22) Coronale: Am weitesten seitlich gelegener Punkt auf der Coronalnaht. (1o) Frontotemporale: Am weitesten nach innen gelegener Punkt der Linea obliqua. (17) Zygion: Der am weitesten nach außen gelegene Punkt auf dem Jochbogen. (16) Porion: Punkt auf dem Oberrand des äußeren Gehörorganes über dessen Mitte. (18) Gonion: Tiefster Punkt am Unterkieferaußenrand.
Einige wichtige Meßstrecken am Schädel:
Größte Hirnschädellänge: Glabella-Opisthocranion. Größte Hirnschädelbreite: Euryon-Euryon. Größte Stirnbreite: Coronale-Coronale. Kleinste Stirnbreite: Frontotemporale-Frontotemporale. Jochbogenbreite: Zygion-Zygion. Schädelbasis-länge: Nasion-Basion. • Gesichtslänge: Basion-Prosthion. Gesichtshöhe: Nasion-Gnathion. Obergesichtshöhe: Nasion- Prosthion. Bögen und Umfänge (Bandmaß) : Horizontaler Umfang, gemessen über die Glabella und das Opisthocranion; Transversalbogen, gemessen von Porion zu Porion, Sagittalbogen, gemessen über Nasion-Bregma-Opisthion. Kurvenaufnahmen (Sarasin) ermöglichen die Winkelfeststellungen, die am Objekt nicht direkt meßbar sind. Die Meßpunkte am Kopf entsprechen denen am Schädel (vgl. 46). Hinsichtlich der osteometrischen Punkte und der Somatometrie, der Messung am lebenden Körper, wird auf 46 verwiesen. Bei fossilen Funden liegen häufig nur mehr oder weniger vollständige Fragmente vor. So bezeichnet man je nach Erhaltungszustand als Cr a n i u m einen Schädel mit Unterkiefer, man spricht von Ca iv a r i u m bei Fehlen des Unterkiefers, von Cal -v a r i a, wenn nur der Hirnschädel erhalten ist, von C a l o t t e, wenn das Schädeldach allein vorliegt. Alle Maße und sonstigen Angaben zur Person, wie Alter, Geschlecht, Gebiß, Gewicht usw., oder zum Fundstück werden auf ausgearbeiteten Aufnahmeblättern (M e ß b l ä t t e r n) eingetragen (Muster bei Martin). Die genommenen Meßstrecken sind in ihrem absoluten Meßwert abhängig von der stark variablen individuellen Größe. Deshalb werden die absoluten Maße zu je zwei miteinander in Beziehung gesetzt und dabei das kleinere in Prozenten des größeren ausgedrückt. Seit R e t z i u s (1842) sprechen wir hier von Index (Indices). Indextabellen (Fürst, 01-brich) gestatten eine schnelle Findung der gesuchten Indices. Es sind Verfahren ausgearbeitet worden, um mehrere Indices in Beziehung zu setzen. Die Indices sind relative Verhältniszahlen und machen von den absoluten Größen unabhängig.
Beim Abnehmen der Maße werden Schädel bzw. Kopf in eine besondere Orientierungsebene gebracht. Dann sind auch Vergleiche durchführbar. Es hat sich fast allgemein die sog. Frankfurter Horizontale (Frankfurter Verständigung 1884) durchgesetzt. Diese Ebene wird durch die beiden Ohr-punkte (Poria) und den tiefsten Punkt am Unterrand der linken Augenhöhle (Orbitale, 45, 3) gelegt. Zum Zeichnen der SarasinschenKurvensyste meundandererKurvensind z. T. sehr komplizierte Schädelhalter (Cr a n i o p h o r e n), die den Schädel in alle Ebenen des Raumes zu schwenken gestatten, konstruiert worden. Spezialapparaturen dienen zur Feststellung von Winkeln und Torsionen. Alles dies gilt mutatis mutandis auch für die Messung des Skeletts und am lebenden Körper. Dies mag für einen Einblick in die Verfahrensweisen der Anthropometrie genügen.
Zum Abnehmen der Maße ist ein Instrumentar z. T. sehr spezieller Art entwickelt worden. Für die Messung von Strecken dienen im wesentlichen drei Instrumente :1. der G l e i t z i r k e I (47), eine präzis arbeitende Schublehre, für kleine Strecken, etwa bei Zähnen, mit Noniusablesung. 2. Der Tasterzirkel (48). Er dient zur Messung vorwiegend von Punkten, die nicht ohne weiteres anatomisch eindeutig festliegen, z. B. größte Schädellänge (Glabella-Opisthocranion) oder größte Schädelbreite (Euryon-Euryon). Der Gleitzirkel wird hingegen bei Punkten benutzt, die eindeutig anatomisch festgelegt sind (z. B. Nahtkreuzungen). Für die Messung am Gesamtkörper dient 3. das Anthropometer, ein Gleitzirkel, der die gesamte Körperlänge zu messen gestattet. Er wird als Stangenzirkel mit verkürzter Skala auch für Messungen an Schädel und Kopf (z. B. Ohrhöhe), bei Quermaßen am Körper und bei Gliedmaßenabschnitten verwendet. An Gleit- und Stangenzirkel kann ein sog. Ansteckgoniometer angebracht werden, dessen nach der Schwerkraft sich einstellender Zeiger auf einem Kreisbogen mit Gradeinteilung die Winkelwerte angibt. Es sei auf die ausführlichen Darstellungen der anthropometrischen Technik von Martin, v. Eickstedt und Molfison verwiesen.
Wie bereits bemerkt, wird mit dem metrisch-quantitativen Verfahren noch nicht die eigentliche Form, die M o r p h e, des gemessenen Schädels, Schädelteiles oder des knöchernen Skelettes und seiner Teile (alles entsprechend für den Kopf und den Körper des Lebenden gültig) erfaßt. Um dies zu tun und um Vergleiche durchführen zu können, sind besondere schematische Normen ausgearbeitet worden, die es gestatten, bestimmte Kurven des Schädels (Horizontalkurven, Transversalkurven usw.), Gesichtsumrisse, Nasenformen, bestimmte Formen der Nasenöffnung (Apertura piriformis) am Schädel, Ausbildung des Nasenstachels, der Nasenbeine u. a. einer Stufe in den genannten Reihenschemen zuzurechnen und damit die Formbildung festzulegen. Weitere wesentliche Feststellungen sind z. B. das spezifische Gewicht der Knochen und die Kapazität des Schädels.
Zu diesen morphologischen und auch z. T. metrischen Feststellungen tritt nun die Beobachtung physiologischer Merkmale. Dazu gibt es ebenfalls Spezialapparaturen (Dynamometer, Apparate zur Beobachtung der Respiration usw.) quantitativer Natur. Es gibt spezielle Verfahren für chemische Tests (Blutgruppen) und wiederum genormte Skalen und Tafeln, z. B. für Hautfarben, Augenfarben, Haarfarben und -formen. Endlich muß der Konstitutionstypus (Konstitution) festgelegt werden, und von hier erstreckt sich der anthropologische Arbeitsbereich hinein in die Psychologie, Medizin und Völkerkunde und erreicht damit seine methodische Grenze.
Alle quantitativen und qualitativen Feststellungen sind niemals einzeln zu behandeln, sondern im Rahmen der übrigen Merkmale. Es treten Korrelationen auf, d. h., zwei oder mehrere Merkmale erscheinen öfter zusammen, als wenn eine rein zufallsmäßige Verteilung der Einzelmerkmale bestände, z. B. die sog. helle Komplexion : helle Haut, blaue Augen, blondes Haar.
Die Wichtigkeit der Fotografie (neuerdings auch der Farb- fotografie) für die Morphologie braucht nicht besonders betont zu werden. Auch hier gilt natürlich, daß für eine anthropologisch exakte Auswertung die fotografierten Individuen oder Knochen bzw. Knochenteile eine genaue Orientierung des Kopfes usw. und der Körperhaltung haben müssen, da sonst Vergleiche unmöglich sind.
Alles aber, was an Merkmalen festgestellt und untersucht wird, ist zu prüfen, wieweit es genisch bedingt ist und wieweit wir mit phänischer Prägung zu rechnen haben. Hier erreichen wir das Aufgabengebiet der. -÷ Humangenetik und in Anwendung auf evolutive Prozesse und auf Verbreitungsprozesse von Merkmalen, bzw. deren genischer Grundlage das Gebiet der Populationsgenetik.
Das Gesamtmaterial, das mit diesen so vielfältigen Methoden gewonnen wird, bedarf natürlich nun noch einer Aufarbeitung statistischer Art. Sie gibt Auskunft über die Art der Variabilität, Streuung, Populationsstruktur. Die statistische Verarbeitung der beobachteten Daten vermag mit ihren Verfahren festzustellen, ob auftretende Unterschiedlichkeiten zwischen Individuen oder zwischen Gruppen signifikant sind, d. h. ob eine genische Verankerung dieser Unterschiede vorliegt und damit als Gruppencharakteristikum benutzt werden kann. Die Statistik verschafft uns auch auf dem Wege der genauen Analyse von Korrelationen wertvolle Einsichten in die genetischen Verhältnisse. Die K o r r e l a t i o n s s t a t i s t i k zeigt (nach v. Eickstedt) die inneren Beziehungen auf, unter denen die Einzelabschnitte des Körpers während des Wachstums stehen, zeigt die Proportions-unterschiede bei den Geschlechtern, den verschiedenen Rassen, Volkskörpern und Konstitutionen und zeigt schließlich auch die Beziehungen biologischer Gruppen unter sich auf. Die Verfahren der Statistik allgemein und speziell der Korrelationsforschung können hier nicht besprochen werden, es muß wiederum auf Martin, v. Eickstedt und auf Koller verwiesen werden. Die statistischen Verfahren haben, wie seinerzeit die Anthropometrie auch, zu einer Übertreibung der mathematischen Methode geführt. Aber sie ist doch letzten Endes die exakte Methode, die die Gruppenunterschiedlichkeiten und die Gruppenähnlichkeiten sowohl in kleineren Verbänden als auch in größeren Gruppen Rassenbegriff) erkennen läßt. Durch die geographische Kartierung ihrer Ergebnisse entsteht ein Bild der Verteilung der Erbmerkmale und deren Kombinate über die gesamte Erdoberfläche hinweg, es entstehen exakt begründete Rassenverbr.eitungskarten , und in gut bekannten Fällen, etwa bei den Blutfaktoren, läßt sich auch die quantitative Verschiebung in der Zeit geographisch erfassen und damit säkulare Wandlungen im genetischen Aufbau der Menschheit und ihrer Gruppen erschließen hier wiederum beginnt der Bereich der -4- Populationsgenetik und Rassengeschichte.
Die Berücksichtigung aller der mit den verfügbaren Methoden erreichbaren Feststellungen und ihre kombinierende Verarbeitung wird die Anthropologie ihrem Ziele näherführen, ein g e - samtheitliches Bild vom Menschen und seinem Wesen in der Vielfalt seiner Erscheinungen zu gewinnen und die natürliche Ordnung dieser Vielfalt innerhalb der Menschheit zu sehen. |
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