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Seit Jahren hatte Wolf Müller sich vorgenommen, Ostdeutschland, wo er geboren ist, einmal mit der ganzen Familie zu besuchen, mit Frau und Kindern. Und jetzt hat es endlich geklappt. Diesmal sind alle dabei, wollen mal sehen, wo der Vater herkommt.
„Nichts ist vergangen. Nichts kann jemals vergehen. Der Holunder nicht, der Sand unter den Hufen, die Mittagsglut auf den Wegen, die roten Backsteinmauern in der Stille des Lichtes von Popiollen.“ So beschreibt Peter Jokostra sein „Heimweh nach Masuren“.
So feierlich kann er das aber nicht empfinden. Er hat gerade mal die ersten sechs Jahre dort gelebt. Es war der 26. Januar 1945. Sie mußten auf die Flucht gehen. Am 24. Januar hatten die Deutschen selbst noch das kaum fertig gestellte Führerhauptquartier beim nahen Rastenburg, die „Wolfsschanze “, großenteils wieder gesprengt, am 27. Januar rück-
te die Rote Armee dort ein. Die russische Artillerie war auch bei ihnen schon dumpf aus der Ferne zu hören gewesen. Und dieses unheilvolle Grollen war näher und näher gekommen. Sie hatten ja bis zuletzt bleiben müssen, bis endlich der Evakuierungsbefehl kam, nur einen Tag, bevor die Russen dann auch bei ihnen am 27. Januar einfielen. Den großen Sechszylinder-Horch von seinem Onkel, der ein hohes Tier in Königsberg war, und ein paar Opel hatte man schon Tage früher Richtung Reich gesehen. Die Bauern im Dorf waren aber erst am frühen Morgen des 26. Januar mit ihren mit Teppichen oder Decken bespannten Wagen aufgebrochen. Es lag etwas Schnee und es mögen sieben bis acht Grad Frost gewesen sein. Sie hatten gerade noch Mittag gegessen, eingeweckte Putenschlegel mit Kartoffeln und eingewecktem Gemüse. Das Geschirr wurde nicht mehr gespült – ein Unding in normalen Zeiten. Er stand also vor diesem Spiegelschrank im allgemeinen Aufbruch, gewissermaßen im toten Winkel, begriff natürlich das Ganze nicht recht, verspürte aber doch, daß da etwas vor sich ging, das schwerwiegend sein würde, nicht mehr umkehrbar, nicht mehr so wie etwas Verbotenes, das man als Kind gemacht hatte, für das man bestraft wurde – aber dann war alles auch wieder in Ordnung. Nein, hier vor dem Spiegelschrank fing er an zu weinen, still und leise vor sich hin, einfach so, ohne die üblichen Anlässe, bis seine Mutter ihn hier fand und bei der Hand nahm. Sie stiegen zu fünft in ihren kleinen DKW, die Eltern vorne, die Kinder und das Kindermädchen nach hinten, wo der Vater den Rücksitz
herausgenommen und statt dessen ein große Kiste mit Lebensmitteln eingepaßt hatte, über die Bettdecken gelegt waren. Über ihnen, also unter dem Verdeck (die Mutter hatte unbedingt ein Cabriolet haben müssen im winterkalten Ostdeutschland) isolierten zwei Pelzmäntel das Wageninnere ab und konnten so auch noch gut mitgenommen werden. Sie kamen den leichten Hang schlecht hoch im Schnee, der natürlich nicht mehr geräumt worden war, mit dem Frontantrieb. Im Dorf war niemand mehr zu sehen, es wirkte mitten am hellichten Tag gespenstisch. Die Stalltüren übrigens und die Haustür blieben offen. Die Russen sollten es leicht haben, keinen Anlaß, etwas zu zerstören. Vielleicht kämen sie denn doch noch einmal wieder zurück und hätten so nicht alles wieder zu reparieren brauchen.
Aber nun, im 21. Jahrhundert startet er erstmal morgens um eins. Weit genug ist die Fahrt in die Heimat. Bis Berlin ungefähr 600 Kilometer, von der Grenze zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen bei Küstrin bis Masuren auch noch einmal 600 Kilometer, aber auf der bundesdeutschen Autobahn dauert das sechs Stunden, auf den polnischen, ehemals deutschen Landstraßen zwölf, zusammen also an die 20 Stunden.
Das muß sich dann auch lohnen, vor allem auch für die, die eben dort nicht geboren sind, für Wolf Wiecherts Frau, für seine Kinder. Dem Mann ist nicht gerade wohl dabei, denn fern aller häuslichen Annehmlichkeiten und Abwechslungsmöglichkeiten könnte das schief gehen – nur Landschaften, nur Familiengeschichten.
Aber die Fahrt ist schon mal abenteuerlich: schmale Straßen, abbröckelnde Ränder, Fußgänger unterwegs zwischen den Ortschaften, Radfahrer, riskant überholende Autofahrer, gelegentlich ein Pferdefuhrwerk. Es ist heiß, die Strecken zwischen den Städten sind lang, durch schier endlose Wälder und Feldfluren. Das alles wurde großenteils früher von Deutschen bewohnt. Die Kinder, die Frau staunen nicht wenig. Hier lebten einfache, offene, freundliche Menschen, die sich freuten, wenn sie jemand besuchen kam, egal, wer das war, er fand einen Platz am Tisch, weil man doch weit auseinander wohnte, großzügige Gastlichkeit selbstverständlich war. Das versuchte Wolf Wiechert zu erklären. In Franken ist das nämlich nicht so.
Am späten Nachmittag die ersten Seen. Kurvenreiche Straßen. Alleen wie Tunnel beinahe durchweg. „Ostdeutschland ist ein Land der Lindenalleen, Eschenalleen, Birkenalleen, Eichenalleen. Alles, was Laub trägt, reiht sich mächtig zu beiden Seiten der Straße. Die fernen Baumreihen geben der flachen Landschaft ihr Gepräge“, notiert Arno Surminski, der Autor des Romans „Jokehnen“, das eigentlich Jäglack hieß, als er dort geboren wurde, eine halbe Autostunde entfernt. Immer wieder viel viel Wald. Und immer mehr Seen.
Die Sonne ist gerade untergegangen über dem See, als die Familie endlich Kehlen erreicht hat, eine kleine Siedlung am Schwenzaitsee.
„Sonnenuntergang über dem Schwenzaitsee bei Angerburg. Da könnte man einen Kulturfilm drehen“, schreibt Arno Surminski. „Wildenten, Schwäne, Haubentaucher, auf der Wiese Pferde und trächtige Kühe, dazwischen der Klapperstorch beim Abendspaziergang. Die Sonne rutscht unaufhörlich ins Schilf, verbrennt im Untergehen ein weißes Segel auf dem Mauersee. Schnell etwas überziehen, sonst hubberst herum in der Abendkühle.“ Das werden die Wiecherts so ähnlich in den kommenden Abenden auch erleben.
Für diesen Abend reichts ihnen. Die Wirtin, eine Deutsche aus dem Ruhrgebiet, bringt eine kräftige Suppe. Ihr Mann hat hier ein neues Haus gebaut, auch für Feriengäste. Er ist in dem kleinen Haus gerade gegenüber, in dem jetzt ein gebürtiger Litauer mit seiner polnischen Frau wohnt, als Deutscher aufgewachsen, vor etwa 80 Jahren.
Und nun verbringen sie alle die erste Nacht in für Wolf Wiechert heimatlichem Gefilde. Es ist eigenartig. Als er mit seinem Bruder dort war, machte er sich das natürlich auch bewußt. Aber jetzt, mit der ganzen Familie, die ja außer ihm keineswegs Heimatgefühle haben dürfte, war das noch mal anders. Sie wollen sehen, wo er herkommt, jedenfalls die Überreste dessen, was früher hier einmal war, selbst in Augenschein nehmen, sind wegen ihm hierher mitgefahren, leben jetzt für ein paar Tage gewissermaßen im Bannkreis seiner Familiengeschichte, die genetisch gesehen für die Kinder auch deren halbe ist, aber eben doch durchaus fremd.
Am ersten Tag regnet es. Die Familie steht sowieso erst gegen Mittag auf. Als dann doch die Sonne durchkommt, gehen sie alle zum See, gerade ein paar Schritte über die sandige Zufahrt zu ihrem Haus. Da liegen Boote, zum Treten und Rudern, später kommt noch ein Motorboot hinzu, das zu steuern nicht ganz einfach ist, weil es ziemlich lang und schwer ist und immer ausschert, nach rechts, nach links, jedenfalls selten in die Richtung, in die seine Benutzer es haben wollen. Aber das ist wohl auch eine Frage der Übung und des Feingefühls.
Jedenfalls ist das interessant. Auch Angeln ist möglich, für Touristen in Angerburg ohne Angelschein. Früher hat es massenweise Brassen und Maränen im See gegeben, erzählt der Wirt, der es noch erlebt hat, daß sie mit einem Netz einmal 75 Kilogramm gefangen hatten. Heute gäbe es zu viele Kormorane, die alles abfischten. Der Garnführer, der beim Grafen Lehndorff im nahen Steinort angestellt war und dessen Schuppen er jetzt umgebaut hatte zu dem Haus, in dem die Familie nun wohnt, habe sich auf dieses Geschäft bestens verstanden. W. W.
Wolf Wiechert: Im Wiechert-Haus in Kleinort
Wassersport auf dem Schwenzaitsee: Wolf Wiecherts Frau und Tochter beim Tretbootfahren und seine Kinder beim Angeln |
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