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Im Juni 1991 wurde im Deutschen Bundestag leidenschaftlich über den Regierungssitz debattiert. Ein Bonn-Befürworter argumentierte, er wüßte den "Bundeskanzler lieber im schmucklosen Bau hinter der Moore-Plastik als im Kronprinzenpalais Unter den Linden". Der Einwand war bezeichnend für die Symbolpolitik der Bonner Republik: Das Bonner Kanzleramt, ein gesichtsloser Verwaltungsbau, galt als Ausweis demokratischer Reife, eines der schönsten Gebäude des preußischen Staates aber als Ausdruck des Gegenteils!
Die Neubauten des Bundestags
und vor allem das Kanzleramt in Berlin zeigen, daß der deutsche Staat sich nicht länger durch architekt onische Mittelmäßigkeit repräsentieren will. Doch eine ganzheitliche Staatsästhetik ergibt sich daraus noch nicht. Einerseits wirkt das Kanzleramt wie ein artifizieller Monolith, andererseits wie eine zu groß geratene Bühne, auf der sich ein flatterhafter Ballermann-Charmeur produziert. Denn Staatsästhetik ist ohne den geschichtlichen Bezug und ohne das Stilbewußtsein der führenden Repräsentanten nicht zu haben!
Wie schwer man sich damit tut, zeigt die Innengestaltung des Reichstagsgebäudes. Als hätte der Bundestag Angst gehabt, das Gebäude kraft eigener Souveränität in Besitz zu nehmen, wurden die vier Siegermächte des Zweiten Weltkriegs symbolisch dazugeladen. Nicht nur, daß die Inschriften der Rotarmisten von 1945 überreichlich an den Wänden belassen wurden. An der Längsseite des Kasinos befindet sich das Fresko eines russischen Künstlers, das aus Dutzenden farbiger Miniaturreliefs gebildet wird, die die Ikonographie des Sowjetstaates ironisieren. Das ist amüsant, doch kann kaum ein Abgeordneter die Bilder deuten. Was haben sie dann im Deutschen Bundestag zu suchen?
Internationalität schlägt um in Unterwürfigkeit und Unernst. Es rächt sich das ungeklärte Verhältnis des offiziellen Deutschland zu Preußen. Denn Preußen hat den deutschen Nationalstaat geeint, geformt und muß deshalb der wichtigste Bezugspunkt seiner Staatsästhetik sein. Die Bundesrepublik aber verfügt nicht über das Selbstbewußtsein, um das preußische Erbe in ihre Symbolsprache zu transformieren. Sobald die preußische Vergangenheit und die Sphäre des Politischen sich berühren, funktionieren die alten Reflexe.
Das zeigte sich bei der Gestaltung der Neuen Wache in Berlin als Nationales Mahnmal zu Beginn der 90er Jahre. Damit die Plastik der "Trauernden" von Käthe Kollwitz aufgestellt werden durfte, mußten auf Geheiß der Kollwitz-Erben die Statuen preußischer Generäle entfernt werden. Und als am 3. Oktober 2002 das Brandenburger Tor in Berlin nach langer Sanierung wieder enthüllt wurde, das wie kein anderes Bauwerk in Deutschland Assoziationen und Emotionen auslöst, bildete der Auftritt eines Altstars der "Neuen deutschen Welle" die Hauptattraktion. Die Veranstalter wollten Lockerheit, Ungezwungenheit, die Abkehr vom preußischen Stechschritt ausdrücken, doch es reichte nur zur Selbstveralberung.
Wie ist diese Mischung aus Schnoddrigkeit, Zerknirschtheit und Infantilisierung zu erklären? Begründungen wie Selbsthaß, Umerziehung, perpetuierte Schuldgefühle und die Verteufelung Preußens sind schnell bei der Hand. Sie sind nicht falsch, doch wer sie verabsolutiert, will den Eindruck erwecken, man könne einfach eine verschüttete Normalität wiederbeleben, indem man an die Vorgaben von Schlüter, Knobelsdorff, Schinkel und der Preußenkönige anknüpft. Gab es diese Normalität aber je? Und was bedeutet sie überhaupt? Es geht um den Dreiklang von Staat, Demokratie und Ästhetik, der in Deutschland bis heute nicht gelungen ist! Wer nach den Gründen fragt, muß nach dem rationalen Kern der antipreußischen Emotionen suchen.
Im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts wurde der aristokratische Kanon zum Vorbild "nationaler Verhaltens- und Empfindungsmuster" (Norbert Elias) und der staatlichen Selbstdarstellung. Das Handeln der adligen Oberschichten basierte ursprünglich auf einem kriegerisch-machiavellistischen Ehrenkodex. Ihre Herrschaft kollidierte mit den Interessen des aufsteigenden Bürgertums, das sich auf einen egalitären und humanistischen Kanon stützte. Die Adaption des Adelskanons durch die Bürgerschichten ging mit seiner inhaltlichen Umdeutung einher. Indem er in die Gesellschaft einsickerte, wurde er demokratisiert und verbürgerlicht. Die Kernfrage war dabei die Einhegung des Militärischen, das seit Jahrhunderten die Domäne des Adels war. Es vollzogen sich also parallele Prozesse: Erstens die demokratische Adaption aristokratischer Zeremonien, zweitens die Aristokratisierung ziviler und demokratischer Tugenden.
Die Aneignung der alten Symbole und Rituale bildet die Brücke zur Identifikation mit Staat und Nation. Zugleich stellt sie sich als ein Akt der gesellschaftlichen Emanzipation dar. Das Ergebnis ist ein stabil-elastischer Konsens aus Zeremonien, Formeln und Institutionen, von denen eine nachhaltige Verbindlichkeit ausgeht. Man kann von einem kollektiven Kompromiß in Gestalt eines ästhetischen Ganzen sprechen, in dem sich Geschichte und Gegenwart begegnen. Dieses Ganze ist für den einzelnen nicht Fremdzwang, sondern verinnerlichte Einsicht, die noch das Bewußtsein der Unvollkommenheit, die dem Kompromiß immanent ist, einschließt.
Die Traditionsstränge überdauern Revolutionen und Systemwechsel. In Frankreich fällt bis heute auf jeden Präsidenten ein Strahl des Sonnenkönigs und symbolisiert der Sieger des demokratischen Wahlakts in königlicher Tradition die Kontinuität und Einheit der Nation. In den USA, die sich im Konflikt mit dem feudalen Europa konstituierten, wird das Präsidentenamt von zeremoniellen Weihen umgeben, die noch den belanglosesten Inhaber mit überpersönlicher Würde ausstatten. Die positiven geschichtlichen Erfahrungen, die in den Symbolen, Zeremonien und Institutionen lebendig gehalten werden, das Bewußtsein von Kontinuität, das sie vermitteln, die Spielregeln, die sie tradieren, regulieren auch das politische Tagesgeschäft. Gerade in schwierigen Situationen mahnen sie die Akteure zu Selbstvertrauen wie zur Demut.
Deutschland verfügt heute nur über eine Melange aus modischen Spaß- sowie Schuld- und Trauerze-remonien. Gerhard Schröder ist ein begnadeter Medienkanzler, aber er repräsentiert nichts als den Stolz des Emporkömmlings auf den eigenen Aufstieg. Arnulf Baring macht für diese Defizite ein unverarbeitetes "1945" verantwortlich, welches das "Bürgertum" anhaltend paralysiere. Ähnlich argumentiert der FAZ-Journalist Thomas Schmid: Das deutsche Bürgertum habe 1933 seine "Selbstaufgabe" vollzogen, weshalb heute die selbstbewußte Elite fehle.
Die Wahrheit ist, daß in Deutschland der wechselseitige Prozeß von Verbürgerlichung und Aristokratisierung nur ungenügend stattgefunden hatte. Der Adelskanon entfaltete zwar seine vorbildhafte Wirkung, doch ohne daß die ihm zugrunde liegenden militärischen Wertvor-stellungen einer bürgerlichen Zivilisierung beziehungsweise Humanisierung unterzogen worden wären. Der schneidige preußische Offizier wurde vom Bürgertum als Ideal übernommen, seine eigenen origi-nären Ideale - Bildung, demokratische und humanistische Überzeugungen - wurden in den Bezirk der Innerlichkeit zurückgenommen. Das blieb bis in das 20. Jahrhundert hinein wirksam.
Die Gründe für die historische Schwäche des Bürgertums - die übersteigerte Bedeutung des Militärs, die Kleinstaaterei, welche die ökonomische und gesellschaftliche Entwicklung hemmte, die Reichseinigung unter preußischer Vormacht - sind bekannt. Eine gesamtdeutsche, bürgerliche "gute Gesellschaft" begann sich erst spät zu etablieren und hatte kaum Zeit und Möglichkeit, stilbildend zu wirken.
Kaiser Wilhelm II. bemühte sich, einen Staatsstil zu kreieren. Die Basis, die ihm dazu zur Verfügung stand, die militärisch zentrierte preußische Königstradition, erwies sich aber als zu karg. Das liberale Bürgertum, soweit es sich treu blieb, vor allem aber die Arbeiterschaft konnte nicht integriert werden. Wilhelms Reisen, Reden, Stapelläufe, Grundsteinlegungen, die vielen Fotos und Filmaufnahmen, die er von sich anfertigen ließ, waren der Versuch, ein einheitliches Reichsbewußtsein herzustellen. Doch der Modernität der technischen Mittel entsprach keine Einsicht in politische und gesellschaftliche Notwendigkeiten.
Fürst Bismarck beklagte in seinen Memoiren, daß sein Nachfolger im Kanzleramt, Graf Caprivi, ein Offizier, nur in militärischen statt in po-litischen Kategorien zu denken imstande sei. Wilhelm II. räumte nach seinem Sturz ein, daß die auswärtige Politik nach Bismarcks Abgang den europäischen Nachbarn "keine ebenbürtige diplomatische Kunst entgegenzustellen verstanden" und ihr "Wille und Geist" gefehlt habe. Doch die hier klagten, hatten selber dazu beigetragen, daß der militärisch durchsetzte Adelskodex sich gegen die bürgerliche Humanitas verschloß und in anachronistischer Weise auf Politik und Gesellschaft einwirkte.
Max Weber, der Bismarck achtete, war auch sein schärfster Kritiker: "Eine politische Tradition (...) hinterließ der große Staatsmann überhaupt nicht. Innerlich selbständige Köpfe und vollends Charaktere hatte er weder herangezogen oder auch nur ertragen." Bismarck habe ein machtloses Parlament "mit tief herab- gedrücktem geistigen Niveau" hinterlassen. Das Adelsgepränge blieb im Kaiserreich ein Ausdruck anachronistischer, vordemokratischer Denkweisen und Ansprüche. Ein Bürgertum, das der Weimarer Republik demokratisches Selbstbewußtsein und würdige Formen verleihen konnte, war 1918 nur in Ansätzen vorhanden. Die Republik fühlte sich daher zu schwach, den monarchischen Formenkanon zu adaptieren und verzichtete auf eine ansprechende Selbstrepräsentation. Das war eine entscheidende Schwäche.
Der kunstsinnige Harry Graf Kessler, ein Demokrat, beschrieb 1930 ein Diner der preußischen Staatsregierung als Synthese aus verdruckster Innerlichkeit und Betriebskantine: "Der Eindruck auf mich war schauerlich. Wo früher ein farbenprächtiges Bild, schöne oder in ihrer Aufmachung schön erscheinende Menschen die Säle festlich füllten, eine einförmige, formlose graue Masse, wie Läuse, die sich wie ein trüber Alltag durch die alte Barockpracht hindurchschob."
Nach der krankhaften Überstei- gerung staatlicher Formen durch Hitler verzichtete die Bundesrepublik auf einen expliziten Staatsstil, der gänzlich diskreditiert zu sein schien. Adliges Gepränge und befrackte Bürgerlichkeit waren zusätzlich durch den "Tag von Potsdam" belastet. Die Bundesrepublik präsentierte sich als kleinbürgerlich verfaßtes Land, das sein Selbstbewußtsein aus dem wirtschaftlichen Erfolg schöpfte. Der Mangel an einer integrierenden politischen Symbolsprache, der jetzt akut wird, wurde lange Zeit sogar als Vorzug betrachtet. Es ist bemerkenswert, daß Jürgen Habermas für das "Ungeformte" von Kohl, für die "Gegenmentalität", die er verkörperte, warmherzige Worte fand: "Aber meine Jahrgänge erkennen in ihm auch einen Generationsgenossen wieder. Ich denke an das schon beinahe körperliche Dementi von Staatsästhetik ..."
Kohls persönliche Insignie war die Strickjacke. Er versuchte, das Politische als eine familiäre Beziehungskiste zu inszenieren. Nach innen war er die Vaterfigur, an die man sich schmiegte, nach außen der gutmütige Onkel. Seinen Kritikern konnte er entgegenhalten, daß seine Politik erfolgreich war. Dieser Erfolg hatte allerdings viel mit der ehedem prall gefüllten deutschen Staatskasse zu tun. Eine Stiltradition hat Kohl nicht hinterlassen.
Politischer Inhalt und politischer Stil hängen eng miteinander zusammen. Deshalb muß die Verdammung Preußens aus politischen wie aus ästhetischen Gründen beendet werden. Es geht aber nicht um eine Rückkehr in eine vermeintlich bessere Vergangenheit. Man muß souveräner sein als in der Bonner und Weimarer Republik und demokratischer als im Deutschen Kaiserreich.
Zeichen von demokratischer Reife? Das gesichtslose Bonner Bundeskanzleramt ist kennzeichnend für das staatliche Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland. Das aus historisch bewegten, stilvollen Zeiten stammende Berliner Kronprinzenpalais (l.) hingegen paßt nicht in das kleinbürgerlich geprägte Selbstverständnis. |
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