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Am frühesten wurde die Auslese (Selektion) als auch sozialanthropologisch wichtige Kategorie erkannt. Nach S p e n c e r und H a e c k e l setzen sich auch im sozialen Wettbewerb die Geeigneten durch und stellt der soziale Erfolg einen Maßstab für die biologische Qualität dar. Diese ältere fortschrittsoptimistische Auffassung wird auch als Sozialdarwinismus bezeichnet. In der Zeit des Absinkens der Geburtenraten und der damit verbundenen sozialen Differenzierung der Fortpflanzung im Sinne einer negativen Korrelation zwischen sozialem Rang und Kinderzahl (-Demographie) konnte diese einfache Übertragung darwinistischer Begriffe auf die menschliche Gesellschaft nicht aufrechterhalten werden; die Überlebens- und Vermehrungschancen gaben im sozialen Bereich offenbar keinen allgemeingültigen Maßstab der Eignung . Es wurde daher zunächst der Begriff der Gegenauslese (Kontraselektion, Auslese der Ungeeigneten) geprägt und dieser Prozeß als ein Kennzeichen hochzivilisierter Gesellschaften angesehen. Da aber Eignung einen Wertmaßstab voraussetzt, viele sozialbiologische Differenzierungsprozesse sich aber unabhängig von wertbetonten Merkmalen vollziehen, empfiehlt es sich, Auslese in der Sozialanthropologie allgemeiner zu fassen und darunter einfach die unterschiedlichen Vermehrungsraten erbverschiedener Gruppen zu verstehen.
Terminologisch nicht oder nur unscharf wurde davon zunächst (und außerhalb Deutschlands auch vielfach heute noch) ein anderer Prozeß getrennt, für den T h ll r li w a l d (1924) den Terminus Siebung vorschlug. Man versteht darunter die Sortierung bestimmter Erbvarianten einer polymorphen Bevölkerung auf bestimmte Umweltvarianten. Örtliche Siebung verteilt die Varianten auf verschiedene örtliche Umwelten (R ii c k -z u g s- und V o r z u g s g e b i e t e , Gebirge und Tiefland, Wald-und Ackerlandschaft, Löß- und Sandböden usw., auch Stadt und Land), so daß sich die Gesamtbevölkerung als ein Mosaik erbverschiedener Teilbevölkerungen darstellt. Bei der sozialen Siebung sind die Berufsgruppen und rangverschiedenen Sozialschichten die verschiedenen Umwelten, auf die die Erbvarianten sortiert werden. In der sozialen Wirklichkeit sind diese beiden Siebungsformen nicht streng zu trennen; der Wechsel des sozialen Standortes vollzieht sich vielmehr häufig durch Ortswechsel (Land-Stadt-Wanderung, Auswanderung). Soweit dabei die Wandernden mit den Zurückbleibenden verglichen werden, spricht man auch von W an d e r s i e b u n g. Bei der P a a r u n g s s i e b u n g schließlich stellt der Partner, und zwar vor allem der Ehepartner, den siebenden Umweltfaktor dar; H o m o g a zn i e liegt vor, wenn beide Partner in gleicher Richtung vom Bevölkerungsdurchschnitt abweichen bzw. positive Korrelationen zeigen; H e t e r o g a rn i e, wenn die beiden Partner in entgegengesetzter Richtung vom Bevölkerungsdurchschnitt abweichen oder negative Partnerkorrelation aufweisen. Siebung strukturiert also die menschlichen Gesellschaften, verändert aber nicht wie die Auslese ihren Gen-Bestand. Da Fortpflanzung und Sterbealter aber beim Menschen in starkem Maße sozial und kulturell geprägt sind, stellen die Siebungsgruppen häufig auch Gruppen unterschiedlicher Vermehrungsraten, also Auslesegruppen dar.
Siebung kann sich nur in einer mobilen Gesellschaft vollziehen, in der ein C o n n u b i n m (Heiratsgemeinschaft) zwischen den Sozialschichten besteht, diese also nicht, wie im Kastensystem, durch Heiratsverbote und Siebungssperren streng voneinander getrennt sind. Auch in Gesellschaften mit hoher sozialer Mobilität findet jedoch keine vollständige Sortierung der Erbvarianten auf die entsprechenden Umweltfelder statt, sondern wirkt dem Siebungsvorgang ein soziales T r ä g h e i t s m o m e n t entgegen, das die Individuen in der Sozialgruppe festhält, der sie nach Herkunft angehören, auch wenn dem nicht ihr Leistungspotential entspricht. Viele soziale Prozesse sind ferner anthropologisch bedeutungslos, da sie von rein außerbiologischen Faktoren wie Angebot und Nachfrage reguliert werden. Von dem Kräfteverhältnis der verschiedenen Sozialfaktoren hängt die Schärfe der Siebung ab.
Erbunterschiede zwischen Sozialgruppen können auch auf ethnischer Überschichtung bzw. Unterwanderung beruhen; in diesem Fall stellen die Sozialschichten herkunftsverschiedene Gruppen dar, die eine neue Bevölkerung zusammensetzen. Mit der Zeit pflegen sich jedoch Heirats- und Siebungssperren zu lockern und schließlich zu verfallen: b i o logische Mischung und kulturelle Assimilation homogenisieren dann die betreffende Bevölkerung, wobei sich jedoch wegen des sozialen Trägheitsmomentes Reste der Erbunterschiede sehr lange erhalten können. Ob Erbunterschiede zwischen Sozialgruppen auf Siebung oder auf Überschichtung beruhen, kann nur aus der Bevölkerungsgeschichte, nicht aus anthropologischen Befunden allein entschieden werden. Die Wirkung beider Sozialvorgänge, nämlich eine Erbdifferenzierung der Gesellschaft, ist aber mit anthropologischen Methoden gegen Sozialmodifikationen (Konstitution, Plastizität) abzugrenzen. |
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