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Unter den Anhängern des französischen Staatschefs Jacques Chirac, der einen Beitritt der Türkei zur Europäischen Union befürwortet, rumort es. Um die Gegner eines Türkei-Beitritts zu beruhigen, hat das Staatsoberhaupt eine Änderung der Verfassung vorgeschlagen, nach der jeder weiteren EU-Erweiterung eine Volksbefragung vorausgehen würde. Frankreichs Gegner eines EU-Beitritt s der Türkei reagierten mit Spott und Empörung, denn dies würde, so der Führer der Sozialisten Laurent Fabius, die Entscheidung über den türkischen EU-Beitritt zehn bis 15 Jahre hinauszögern.
Die Regierungspartei UMP, und hier insbesondere ihr zukünftiger Vorsitzender, Nicolas Sarkozy, haben die Sorge, daß die Debatte über die Türkei die Abstimmung über die EU-Verfassung beeinträchtigen könnte. Nach Angaben des Pressedienstes der UMP-Fraktion in der Nationalversammlung wolle der Fraktionsvorstand schon bald zusammenkommen, um sich auf einen Verfahrensvorschlag für die Behandlung der Türkeifrage im Parlament zu einigen. Schon jetzt scheint klar zu sein, daß die Partei Chiracs eine Abstimmung in der Nationalversammlung über die Beitrittsfrage zu vermeiden suchen wird. Der französische Premier Jean-Pierre Rafarrin ist offensichtlich ebenfalls gegen eine solche Abstimmung und hat ein Schreiben des Führers der Zentristen, François Bayrou, unbeantwortet gelassen, der dringlich gefordert hatte, bereits vor dem Beginn von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei über diese in der Nationalversammlung nicht nur zu debattieren, sondern auch abzustimmen. Nach den Aussagen Bayrous sei es notwendig, daß "die elementarste Regel der Demokratie" vor einer historischen Entscheidung angewendet werde. Für den Regierungssprecher Jean-François Copé hingegen wäre eine Abstimmung in der Nationalversammlung gegen den Geist der europäischen Institutionen gerichtet, nach dem die EU-Mitgliedsstaaten sich erst nach Verhandlungen auf europäischer Ebene entscheiden dürften.
Obwohl sich eine Gruppe von 80 UMP-Abgeordneten gegen die Aufnahme von Verhandlungen mit der Türkei ausgesprochen hat, wird die Regierung alles tun, damit Chirac beim Brüsseler Gipfel freie Hand hat. Es ist derzeit nicht leicht zu sagen, ob die Debatte nach diesem Gipfel sich fortsetzen oder abflauen wird. Auf jeden Fall werden die französischen Euroskeptiker und Gegner einer EU-Verfassung die Gelegenheit des Streits über die Türkeifrage benutzen, um für eine Ablehnung der Verfassung zu werben. So wird beispielsweise der Chef der Front National, Jean-Marie Le Pen, von der amtlichen Nachrichtenagentur Agence France-Presse mit der Aussage zitiert, daß Chirac alles tue, um eine Ratifizierung der EU-Verfassung zu erreichen, und die Franzosen aufgefordert seien, durch eine Ablehnung der EU-Verfassung zugleich Nein zum EU-Beitritt der Türkei zu sagen. Einen ähnlichen Standpunkt vertritt der Konservative Philippe de Villiers. Die Kommunisten streben sowieso an, die in ihren Augen ultra-liberale Verfassung der EU zu kippen.
Bemerkenswerterweise halten sich die führenden Tageszeitungen wie der regierungsnahe Figaro oder das Massenblatt Le Parisien in dieser Frage bedeckt. Nur Le Monde machte dies zum Thema. Sie kämpft nicht nur für eine Annahme der EU-Verfassung, sondern anscheinend auch für einen EU-Beitritt der Türkei. Mit Bezugnahme auf de Gaulle und die gaullistische Politik ab 1958 will offenbar dieses einflußreiche Blatt dazu beitragen, das "große Europa" auf die Weltbühne zu bringen. Ob die Franzosen sich jedoch für die Realisierung "grandioser" Projekte finanziell schröpfen lassen werden, bleibt dahingestellt. In diesem Zusammenhang wird es interessant sein, zu erfahren, ob der Sozialist Laurent Fabius, der sowohl gegen die EU-Verfassung als, wie gesagt, gegen Verhandlungen mit der Türkei ist, sich bei den Sozialisten durchsetzen wird. Auf jeden Fall verfolgt die französische Presse die Anstrengungen Fabius mit Argwohn. Francisco Lozaga
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