Sinn der Phrasen

"Wir müssen aufpassen, daß die DDR nicht Kult wird." Mit diesem Satz wurde am Stammtisch im Deutschen Haus Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit zitiert, der sonst nicht unbedingt ein Liebling dieser Runde ist. "Aber wo er recht hat, hat er recht", sagte Sascha aus Chemnitz

. Er meinte, daß die "Ostalgie-Show" des ZDF wenigstens versuche, sich dem Leben in den Nischen der Mitteldeutschen, ihrem sichtbaren Alltag zuzuwenden, von dem die Westdeutschen wenig Ahnung hatten und haben. Mauer, Todesschüsse und scharf kontrollierter Reiseverkehr hätten die Menschen so brutal geteilt, daß sie wenig voneinander wußten. Hinzu kam das "süße Gift der Libertinage", das viele "Wessis" von einer mitfühlenden Anteilnahme am Schicksal der "Ossis" ablenkte.

Zur Sache ging es am Stammtisch allerdings, als Stefan den Artikel II des Entwurfs der Europäischen Verfassung vorlas, den jüngst ein Konvent zusammengebastelt hat: "Jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer hat das Recht auf eine Begrenzung der Arbeitszeit, auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten sowie auf bezahlten Jahresurlaub." Dann zitierte er den Artikel 34 der DDR-Verfassung: "Jeder Bürger der DDR hat das Recht auf Freizeit und Erholung. Das Recht auf Freizeit und Erholung wird gewährleistet durch die gesetzliche Begrenzung der täglichen und wöchentlichen Arbeitszeit (und) durch einen voll bezahlten Jahresurlaub."

Im Artikel II des europäischen Superstaats werde weiterhin versprochen: "Jeder Mensch hat das Recht zu arbeiten." In der DDR habe es gehießen: "Jeder Bürger der DDR hat das Recht auf Arbeit." Recht, Wirklichkeit, Phrasen und Erfahrungen waren nach diesen Zitaten ein heißes Thema am Stammtisch. Einen ganzen Sommerabend lang ging s um Deutschland und die Deutschen, die endlich zu sich selbst finden wollen.

Euer Michael