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Stimme der Vernunft

 
     
 
Zornentbrannt stehen sie sich gegenüber und nur die trennende Gartenmauer verhindert, daß es zu Handgreiflichkeiten kommt. Seit über 20 Jahren sind sie Nachbarn, ohne daß der eine den anderen in dieser Zeit schätzen gelernt hat. Im Gegenteil. Zu unterschiedlich sind die Charaktere, ist die Lebensart der beiden, als daß es eine Annäherung geben könnte. Hier der gesellige, ständig vor sich hin werkelnde Familienmensch Kurt - dort der stille, feinsinnige Johannes.

Häme und Feindseligkeit bestimmen ihr Verhältnis. Während Johannes hektische Flecken im Gesicht bekommt und entnervt die Zeitung auf den Boden wirft, wenn vom Nachbargrundstück lautstarkes Hämmern, Sägen und Bohren herüberschallt und schrilles Kindergeschrei die kostbaren Gläser in der Vitrine erzittern läßt, kann Kurt nur den Kopf schütteln über einen Menschen, der weder seine Dachrinne zu reparieren noch ein zünftiges Gartenfest zu feiern versteht.

"Barbar" und "blasierter Lackel" sind noch die harmlosesten Namen, die sie füreinander übrig haben. In diesem Jahr ist ein weiterer Streitpunkt hinzugekommen. Von seinen ländlich wohnenden Verwandten hat Kurt sich ein überzähliges Jungtier aufschwatzen lassen und so tigert seit ein paar Wochen ein schwarzes Katerchen durch seinen Garten. Es ist gesund und munter, mit gut entwickeltem Jagdinstinkt, wie Johannes feststellen muß. Zu seiner Empörung stellt dieses Viech nämlich mit wahrem Feuereifer jungen Vögeln nach. Schlimm genug, daß Kurt so etwas in seinem eigenen Garten duldet. Daß der Kater sein Jagdrevier nun aber aufs Nachbargrundstück ausdehnt - das geht entschieden zu weit! Johannes liebt es, dem Gesang der Vögel zu lauschen, und er ist nicht bereit, auf diese besonderen Mußestunden zu verzichten. Wenn das schwarze Raubtier weiterhin sein Unwesen treibt, wird bald das letzte Zwitschern, das letzte Flöten verstummt sein!

Als wieder einmal Vogelfedern durch den Garten segeln, explodiert Johannes. Eine schlichte Katze zündet jenen Funken, welcher den jahrelangen Schwel-brand zwischen den Männern in loderndes Feuer verwandelt.

Mit hochrotem Kopf und flammenden Blicken marschiert Johannes zur Gartenmauer, hinter der er Kurts stämmigen Rücken erspäht hat. "Ich schick Ihnen die Polizei auf den Hals, wenn Sie Ihr gefräßiges Mistvieh nicht auf der Stelle fortschaffen!" wettert er los. "Bist jetzt übergeschnappt?!" entfährt es Kurt, und er läßt den Puppenwagen, den er gerade für Enkelin Lena repariert hat, unsanft ins Gras zurückfallen. "Ich verbitte mir diesen Ton!" schreit Johannes mit kreischender Stimme. Was sich in 20 Jahren nachbarlicher Fehde in ihm aufgestaut hat, bricht sich nun Bahn. Kurts Frau, die zusammen mit ihrer Schwiegertochter in der Küche Gemüse putzt, läuft bei diesem Spektakel eilendes ans Fenster: "So schlimm war s ja noch nie mit den beiden! Wenn Kurt sich nur wieder einkriegen wollte. Bei seinem hohen Blutdruck kann er ja jeden Moment tot umfallen." Lena, gerade mit dem Ausmalen eines Bildes beschäftigt, reißt erschrocken die Augen auf. Tot umfallen? Der Opa? Ihre Unterlippe beginnt zu zittern. Der Opa ist ihr ein und alles. Mit seinen starken Armen kann er sie fast in den Himmel heben und selbst der ärgste Ratscher am Finger tut gleich nicht mehr so weh, wenn Opa ordentlich drauf pustet.

Die zwei Frauen am Fenster bemerken nicht, wie Lena leise aufschluchzend aus der Küche läuft. Die Tränen rollen ihr übers Gesicht, während sie auf die Männer zueilt, die sich wie Kampfhähne gegenüberstehen. Mit ihren dünnen Armchen umklammert sie Kurts Hosen
bein: "Bitte, bitte, Opa, hör doch endlich auf! Du sollst nicht tot umfallen!" Die beiden Kontrahenten verstummen schlagartig. Als müßten sie erst in die Wirklichkeit zurückfinden, starren sie benommen auf das kleine Mädchen, das mit nassen Augen flehend zu ihnen hochschaut. "Ja, so was", murmelt Johannes verlegen und kommt sich selbst wie ein Barbar vor. Behutsam hebt Kurt seinen Liebling hoch und setzt ihn auf die Gartenmauer. "Nein, nein, der Opa fällt schon nicht um."

Noch zögert er, aber als sein Blick Johannes streift, der plötzlich ganz blaß geworden ist, streckt er dem Nachbarn die Hand entgegen: "Nix für ungut. Das mit dem Mohrle paßt uns ja selber nicht. Durch den Vorratskeller flitzen die Mäuse, und der verflixte Kater hockt in den Bäumen! Aber den erziehen wir uns schon! Wär doch gelacht, wenn wir Mannsleute dem Vieh nicht gute Mani
 
     
     
 
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