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Vieles ist wie damals

 
     
 
Wolf Müller , seine Frau und seine vier Kinder wollen das Dorf sehen, das Haus, wo er vor 60 Jahren geboren ist. Deshalb sind sie ja hergefahren nach Masuren. Was sie wohl sagen werden? Denn immerhin, das Haus steht noch.

Am nächsten Tag fahren sie allerdings erstmal zu zweit nach Skandau. Da sie nicht einfach vor das Haus fahren und dort anfragen können, ob sie es besichtigen dürfen, müssen sie gewissermaßen erst mal Quartier machen. So fahren die beiden also auf schmalen alleengesäumten Straßen die vielleicht 40 Kilometer in einer knappen Stunde, an Surminsk
is Jäglack vorbei, durch Barten, wo Wiecherts Großvater zuletzt lebte und beerdigt wurde und sein Onkel nahe dieser kleinen Stadt ein beachtliches Anwesen bewirtschaftete, Meistersfelde, das nur aus seinem Wohnhaus und den Stallungen bestand, mitten in seinen Wiesen und Äckern.

Dann kommt Skandau, Skandawa, wie es auf dem Ortsschild steht, gleich etwas abgelegen der Bahnhof, verwaist, die Gleise zugewachsen, verrostet, hier kurz vor der russischen Grenze endet die Bahnstrecke, die früher in die Kreisstadt Gerdauen führte, in das heutige russische Schelesnodoroschnij, zu dem es bis heute keinen Grenzübergang gibt. In das Dorf hinein vorbei an Park und Schloß der Dönhoffs, das heißt den Park erahnt man wegen ein paar alter Bäume eher als daß man ihn wirklich sieht, und das Schloß gibt es auch nicht mehr. Nachdem die Russen eingerückt waren, haben sie es angezündet, und die hier neu Angesiedelten bauten schließlich einen scheußlichen Kindergarten mit Flachdach, der aber jetzt auch leer steht, auf dem Grundstück. Dietrich Graf von Dönhoff, Bruder der bekannten Publizistin Marion Gräfin Dönhoff, und seine Frau, eine geborene von Lehndorff, bewirtschafteten hier zuletzt einen Besitz von 55000 Morgen, also etwa 11000 Hektar, wobei der Graf passionierter Pferdezüchter war, auch das Militär belieferte, mit sogenannten Remontepferden, meistens Trakehnern. Als Stanislaus, der älteste Sohn, Geburtstag hatte, waren Wolf und sein Bruder eingeladen ins Schloß. Stani bekam ein Pony geschenkt, unvergeßlich bis heute, denn das gescheckte Pony wurde in die Halle geführt, wo die Kinder feierten. Die Tochter Karin brachte übrigens jedes Jahr um Silvester herum mit einem Schlitten, der von zwei bunt geschirrten Ziegenböcken gezogen wurde, ein paar Feldhasen. Ziegen hatte bei uns niemand, sie waren etwas Exotisches.

Am 20. Juli 1944 wurde der Bruder der Gräfin, Heinrich von Lehndorff, Schloßherr in Steinort, das unweit von dem Wiechertschen Ferienhaus am Mauersee liegt und noch steht, verhaftet und später hingerichtet. Die Verwandten wurden natürlich auch verhaftet und in Königsberg verhört.

Das Problem war nur, wie die Gräfin nach Königsberg gebracht werden sollte. Daß es ein Problem war und was sich damals überhaupt in Skandau abgespielt hat, wußte selbst er lange Zeit nicht. Bis ihm die Gräfin anläßlich des Todes ihres Mannes Dietrich Graf von Dönhoff im Oktober 1991 einmal unter anderem folgendes schrieb:

„Mit Ihrem Vater verbindet mich ein originelles Erlebnis. Ich wurde 1944 gleich nach dem 20. July in Skandau verhaftet, als Schwester des Grafen H. Lehndorff ( + 20. July). Da ich mich weigerte mein Auto zu dieser Fahrt nach Königsberg herzugeben, wurde Ihr Vater von der Polizei beordert mich ins Gestapo-Gefängnis zu fahren. Sicher war es ihm eher unangenehm, aber als Lehrer in den Jahren war er wohl in der Partei und er tat es. Diese Geschichte ist für Sie vielleicht ganz interessant.“

Ist sie auch. Keiner aus der Familie hat ihm das jemals erzählt. Allerdings wußte er, daß es in Skandau damals nur drei Autos gab: das der Gräfin, das des Schmieds und eben den DKW seiner Familie. Angeblich sprangen die beiden anderen nicht an. Also mußte sein Vater dran glauben.

Diese Geschichte geht dem Heimatreisenden wieder und wieder durch den Kopf. Es war und ist ihm peinlich. Aber seinem Vater war wohl nichts anderes übrig geblieben.

Dietrich Graf von Dönhoff beendete sein Leben übrigens hochbetagt und höchst angemessen: Beim Beschlagen eines Pferdes, das ausschlug, wurde er so schwer verletzt, daß er daran starb.

Das alles fällt Wolf Wiechert bei der Fahrt durch seine Heimat wieder ein, jetzt, wo sie an den Resten des Parks vorbeifahren, weiter ins Dorf.

Das Kopfsteinpflaster ist asphaltiert, der Landweg, den er schon mit seinem Vierrad benutzte, auch. Dann, nachdem sie rechts das Haus des Briefträgers Englert passiert haben, kommt bald der Neumannsche Hof. Gustav Neumann mit seiner Frau Gerda, die sich immer mit „Gnädige Frau“ anreden ließ, bewirtschaftete etwa 400 Morgen gutes Land. Seine Tochter Illa besaß sogar ein Reitpferd und heiratete später übrigens einen Oberst der Bundeswehr. Seine Pferde mußten im Winter bewegt werden, also banden die Kinder im Dorf ihren Schlitten an den großen, vor den die Pferde gespannt waren. Wolf Wiechert bekam meist eine der letzten Positionen von seinem älteren Bruder zugewiesen, so daß er in Kurven derart ins Schleudern geriet – zur Freude der anderen – daß er immer wieder umkippte.

Zwei Familien, die total zerstritten sind, wohnen jetzt dort. Und in der vorderen Hälfte lebt Christina mit Mann, Tochter, Schwiegersohn und Kindern. Christina stammt aus Motgarben, einem Nachbardorf, kam nicht weit auf der Flucht, blieb schließlich dort, durfte auch bleiben, weil sie in den Nachkriegsjahren einen Polen, der eigentlich ein vertriebener Ukrainer ist, eben ihren Mann Bogdan, heiratete. Ihre Mutter brachte Wolf Wiecherts Mutter Milch, Eier, Speck. Daher war die Familie mit ihr bekannt. Sie spricht natürlich Deutsch, wenn auch anfangs ziemlich gebrochen, da geht erstmal „nuscht nichts“, aber nach ein paar Stunden ist sie wieder drin im Deutschen. Bei ihnen in der Familie gäbe „es keine Zankung, bei uns jeder sagt in die Augen, dann fertig“. Vertraute Wörter, steigen auf wie aus längst vergangenen Zeiten: Es gibt den „Lorbaß“, den „Pungel“, die „Marjellkes“, die „Fuppen“, das „Plachandern“, das „Schabbern“, das „Hucken“, die „Schubrin“, den „Kumst“, den „Mostrich“, die „Glumse“, die „Flinsen“, die „Klopse“, den „Schmandschinken“.

Und Christina spricht natürlich auch Polnisch. Sie kann ihre Nachbarn, die in Wiecherts ehemaligen Haus wohnen, fragen, ob und wann der Deutsche mit seiner Familie kommen kann. Bis das geklärt ist, bleiben Wolf Wiechert und seine Frau. Dann, nachdem die Tochter über die Straße zu den Nachbarn gegangen ist, kommt die Bestätigung: Übermorgen seien sie willkommen, gegen 11 Uhr.

Am übernächsten Tag fährt die ganze Familie Wiechert also nach Skandau. Wolf Wiechert be-schleicht dabei ein merkwürdiges Gefühl. Jetzt ist die ganze Familie dabei. Was wird sie sagen? Wie wird es dort aussehen? Und wie war das überhaupt damals zu Hause? Was soll er erzählen, was hat er schon erzählt? Denn so toll war das nun auch wieder nicht. Seine Eltern waren oft unterwegs. Am Tisch durften die Kinder sowieso nicht mit essen, nur mit Rosa, dem Mädchen, in der Küche. Überhaupt – herzlich ging es nicht zu in seiner Familie. Wolf Wiechert kann sich nicht erinnern, je einen Kuß von seiner Mutter bekommen zu haben. Und sein Vater war sehr streng. „Ich werde ihnen zeigen, wo vorn auf dem Küchenschrank der Rohrstock lag“, denkt sich der Familievater Wiechert auf der Fahrt.

Und während der Ostpreuße der Gegenwart Richtung Skandau fährt, später auch zu den anderen Orten der Familie, versucht er zu erklären, daß die Ostdeutschland auch kein normaler deutscher Volksstamm sind, sondern zusammengesetzt aus eigentlich vier Komponenten neben den deutschen:

„Wir haben …. seit dem Anfange des 18. Jahrhunderts … eine englische, genauer gesagt eine schottisch-englische Ader im ostdeutschen Volksleibe, neben der reichen flämischen, die uns die gute Hälfte des Blutes zuführt, und Motherby, Pickering, Foster, Duglas und Hobson, Oldsloe, Kant sind alte ostdeutsche Namen.“ Einer von Wiecherts Vorfahren hieß Maas, stammte vermutlich aus Holland. Es gab ja die Landschaftsbezeichnung Preußisch-Holland. Die Holländer wurden angesiedelt, um das Weichseldelta trockenzulegen. Zu den hier angeführten Zugewanderten kamen die assimilierten Ureineinwohner, die Pruzzen, nach denen schließlich das Land benannt ist. Nicht zu vergessen die Hugenotten, die aus Frankreich vertriebenen Protestanten, die der preußische König aufnahm. So hieß der Kaufmann in Skandau beispielsweise Crie.

Und da sind die Wiecherts jetzt angekommen, das heißt vor dem Neumannschen Hof. Herzlich werden sie empfangen. Dann gehen sie rüber. Die deutschen Besucher werden von einer älteren Frau freundlich begrüßt und ins Haus gebeten. Und da ist gleich die Küche, heute auch noch, links die Ecke, wo der Küchenschrank stand und der Rohrstock lag. Da ist das Schlafzimmer, hier wurde Wolf Wiechert sehr wahrscheinlich gezeugt, auf der anderen Seite das Herrenzimmer, Amtszimmer mit dunklen schweren Möbeln und dem Klavier, sein Vater war auch Standesbeamter. Hier feierte die Familie Weihnachten, hier mußten die Kinder Gedichte aufsagen, die sie mit Rosa gelernt hatten. Und da ist der Alkoven unter der Treppe, in dem Rosa anfangs schlafen mußte, bis sie später auf dem Speicher einen eigenen abgeteilten Raum bekam. Rosa schlief übrigens nie mehr in karierter Bettwäsche, nachdem sie in Königsberg im Waisenhaus in solchem Bettzeug hatte schlafen müssen.

Die Gäste gehen noch zu dem Keller, der über der Erde zu sehen ist, vorbei an den Stellen, an denen die Bienenhäuser standen und der Kruschkenbaum. Die Garage aus Wellblech, in der der DKW überwinterte, steht auch noch.

Wolf Wiechert fühlt sich plötzlich merkwürdig leer, kaum ergriffen. Frau und Kinder scheinen mehr beeindruckt zu sein. Ihr Gatte und Vater hat das alles schon hundertmal wieder erzählt bekommen und erträumt.

Der nördliche Teil mit großem Wohnzimmer, das nur an Festtagen geheizt wurde, Tage vorher, damit die Wände auch warm wurden, wo die Chippendale-Möbel standen und der Glasschrank mit den Nippes, den Schmetterlingen und Hummeln aus Porzellan und den Sammeltassen natürlich. Das Zimmer ist jetzt geteilt. Im Flur, der das große Zimmer von dem Kinderzimmer trennt, hing das Bild, das Wiechert vor zwei Jahren, als er ohne seine Kinder unterwegs war, von den Polen abgekauft hat. Der Abdruck an der Wand ist noch gut zu erkennen. Es muß dort all die Jahre, Jahrzehnte gehangen haben. Vor vier Jahren, als er es zum ersten Mal entdeckt hat, weigerten sich die Polen, es zu verkaufen, es käme aus einem anderen Haus. Dabei hat das Bild mit ziemlicher Sicherheit sein Vater gemalt, ein passionierter Angler und mäßig talentierter Maler. Eine beinahe eindeutige Signatur bestätigt das. Es stellt einen Angler am Fluß in einer leicht gebirgigen Gegend dar. Dann aber, nach zwei Jahren, als sie Rentner geworden waren, haben sie es doch verkauft. Und heute hängt es bei den Wiecherts im Haus, eines der wenigen

Stücke von dort, die auf diese Weise einen besonderen Wert bekommen haben.

Als die Deutschen Skandau verlassen, hat der heimatreisende Ostpreuße das fade Gefühl dessen, der eine nicht gerade leichte Aufgabe zufriedenstellend hinter sich gebracht hat. W. W.

Wiecherts Vater mußte die Gräfin ins Gefängnis fahren

Die Familie wurde im Heimatdorf herzlich empfangen

Wolf Wiecherts Geburtshaus in Skandau: Immer wieder wurden Kindheitserinnerungen bei dem Ostdeutschlandfahrer wach.
 
     
     
 
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