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Volle Deckung

 
     
 
Inniges Schweigen sagt manchmal mehr aus als lautes Reden. Doch so heftig geschwiegen wie in den Tagen nach der spektakulären Rede Martin Walsers zur Vergangenheitsbewältigung wurde in der deutschen Geschichte schon lange nicht mehr. Selbst die direkt kritisierte "Zeit" äußerte sich nur kurz, der "Rheinische Merkur" oder die "Welt" ebenso, ansonsten kommentierten das Ereignis gerade noch – schon ausführlicher – die "Junge Freiheit". Darüber hinaus so gut wie nichts. Auch nicht von der Schar der Schriftsteller, Intellektuellen und Politiker, die es doch stets als ihre Pflicht ansahen, das Thema "Umgang mit der NS-Geschichte" in den Mittelpunkt öffentlicher Betrachtungen zu rücken.

Hat Walser ihnen die Sprache verschlagen? Oder Ignatz Bubis, als er den Friedenspreisträger einen "geistigen Brandstifter" nannte?

Nachdem die "Elite" des Landes jene Frankfurter Rede zunächst begeistert beklatschte, hat sie schon kurz darauf nichts mehr zum Thema zu sagen. War da was? Bin ich überhaupt dabeigewesen? Martin Walser steht – so mutet es zumindest an – mutterseelenallein. Indes, auch der wütenden Reaktion von Ignatz Bubis mochte beinahe niemand folgen.

Keine Reaktion aber ist auch eine. Martin Walser könnte sich vielleicht gerade dadurch bestätigt sehen. Er sprach davon, daß die Schrecken der NS-Herrschaft
instrumentalisiert würden von "Meinungssoldaten", daß die "Moralkeule" im Lande kreise und eine "Routine der Beschuldigung" eingerissen sei. Jetzt kann er sagen: Da habt Ihr´s. Alle haben meine Rede gehört. Alle wissen seit der Reaktion von Ignatz Bubis, daß ich den Nerv getroffen habe wie vor mir keiner. Aber so gut wie niemand wagt es, in der ihm sonst so vertrauten Öffentlichkeit Stellung zu beziehen. Das ganze Land hat Angst, moralisch niedergemacht zu werden, ganz wie ich es beschrieben habe.

Recht bekommen – so möchte man dem Literaten zurufen – kann manchmal ein schmerzhaftes, niederdrückendes Erlebnis sein. Martin Walser macht es womöglich gerade durch.

Welcher Zuschauer der Paulskirchen-Szene erinnert sich nicht an den stämmigen Bundesminister in den vorderen Reihen, der sich behäbig umwandte und mit nervösem Blick die hinteren Ränge nach Reaktionen abgraste. Klatschen sie? Oder klatschen sie nicht? Oder stehen gar die ersten schon auf, um vor "Wut und Empörung" den Saal zu verlassen? Sie klatschten, und keiner war aufgestanden. Also widmete der Kabinettskollege des scheidenden Kanzlers seine Aufmerksamkeit wieder dem Redner und applaudierte erleichtert. Sensibilität für die Stimmung im Lande, nennt man das heute.

Doch nach dem Donnerschlag von Ignatz Bubis ist der Applaus für Martin Walser abrupt verklungen. Denn, so dürften sich die sonst so redseligen Zeitkritiker (frei nach der Frankfurter Friedenspreisrede) dumpf vor Augen führen, "in welchen Verdacht gerät man", wenn man Walser jetzt in aller Öffentlichkeit zustimmt? Wie hatte dieser noch gleich gesagt: Eine Beschuldigung müsse nur weit genug gehen – sei sie an sich schon schlagend, erübrige sich ein Beweis. Will heißen, wer auch immer nachdrücklich mit dem braunen Makel behängt wird, und geschehe es noch so unberechtigt, der wird ihn nicht mehr los. Fertig.

Ignatz Bubis hat angekündigt, daß er auf Martin Walser in seinen Reden am 9. November in Berlin und Frankfurt reagieren werde. Dann jährt sich die euphemistisch "Reichskristallnacht" getaufte Nacht des Grauens für die deutschen Juden zum sechzigsten Male. Statt in die vom Verfasser dieser Zeilen vergangene Woche erhoffte öffentliche Kontroverse über Walsers Thesen einzutreten, sieht es derzeit so aus, als verböten sich die sonst so selbstbewußt erscheinenden Verfechter der "Zivilcourage" bis dahin lieber den Mund. Ist das die Atmosphäre, die sich die Verfechter der von Walser kritisierten Vergangenheitsbewältigung ge-wünscht haben? Pompöse Sprache, wenn alles klar ist, und schweißgebadetes "Lieber erst mal sehen, was kommt", wenn man seine Position plötzlich und unerwartet selbst denken und formulieren soll?

Niemand kann Auschwitz bezweifeln, stellt Walser seiner Kritik voran. Aus der Realität von Auschwitz zieht der Publizist Ralph Giordano den Schluß: "Wir Deutschen sind kein normales Volk." Der Berliner Schriftsteller Peter Schneider widersprach: "... wo kämen wir hin, wenn wir unseren Kindern als erstes beibringen: du bist nicht normal, du gehörst nicht zu einem normalen Volk? Wir würden ja Monster züchten."

Angesichts dieses allgemeinen, gespenstischen Wegduckens nach der Walser-Bubis-Kontroverse grübelt man, wer hier recht hat, Schneider oder doch – Giordano?

 

 
     
     
 
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