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Rußland Anfang Oktober 1941. Es gab die ersten Nachtfröste, als die bei Wjasma eingeschlossenen Russen im Morgengrauen versuchten, ostwärts aus dem Kessel auszubrechen. Ich stand an einem Dorfrand als Artilleriebeobachter. Es war stockfinstere Nacht. Einige hundert Meter vor mir stiegen die Leuchtkugeln der Infanterie hoch. Grün hieß: Sperrfeuer schießen. Da hörte ich ein Kettenfahrzeug auf mich zurappeln. Beim langsamen Näherkommen unterschied ich Stimmen in ostdeutscher Mundart. Bald hatte ich keinen Zweifel. Ich rief die Soldaten an, ob sie wohl aus Königsberg seien, Ja, und dann kämen sie wohl nicht von den Hufen, sondern meiner Schätzung nach vom Sackheim oder Haberberg. Ja, so wäre es. Aber woher wüßte ich so genau Bescheid? Welche Frage! "Und wenn ihr von der Königsberger Flak seid, müßtet ihr eigentlich einen Heinz Stadler kennen." "Den Leutnant Stadler meinst du? Er kommt uns nach, er muß gleich hier sein." Ich lauschte und rief in die Nacht: "Heini ...!" Heisere Kommandostimme zurück: "Was soll das?" "Du kannst ruhig ,du zu mir sagen." Ich nannte meinen Spitznamen. Das gab ein Schulterklopfen und Fragen. Bald war die Dämmerung angebrochen, und die Russen kamen mit "Urräh", sogar mit Kavallerie, aus einem Wald heraus in gestrecktem Galopp auf die Straße zu, wenige hundert Meter an unserem Dorf vorbei, das sie aus gutem Grund mieden. Neben mir ein MG. Ich winkte Heini zu, aus der Schußlinie zu gehen, aber er fuhr schon mit seiner Vierlingsflak die Anhöhe hinunter. - Ich habe ihn nicht wiedergesehen.
Aber dann kam doch noch ein Lebenszeichen aus Königsberg, einige Monate später. Heini war als Verwundeter in der Heimat und hatte eines Tages meine Eltern besucht.
Er war voller Tatendurst: "Ich will noch nach Afrika und nach England, die Invasion." Mein Vater: "Aber bleiben Sie doch wenigstens so lange hier, bis Sie ganz gesund sind." Da sprach er von seiner Verantwortung für seine Männer und zog dahin. Auf dem Wege zurück zur russischen Front fiel er einer Fliegerbombe zum Opfer, kaum 21 Jahre alt. Die traurig-schönen Verse August von Platens kamen mir in den Sinn. "... Allzu früh und fern der Heimat mußten hier sie ihn begraben, während noch die Jugendlocken seine Schultern blond umgaben ..."
Erst als sich der große Sturm gelegt und uns heimatlos zurückgelassen hatte, sah ich um mich die große Einsamkeit, sah die vielen Opfer der Besten, meiner Schulfreunde und Klassenkameraden. Und heute ...? Mit dem Abstand der Jahre sehe ich Heini Stadler, Albrecht Czibulinski, Werner Nicolaus, Hans Model und die vielen anderen Gefährten meiner Schulzeit in ewiger Jugend vor mir, denn sie sind ja nicht wie wir älter und alt geworden, sie stehen noch vor uns in der Vollkraft ihrer Jugend. Sie sind der Spiegel unserer eigenen, längst entschwundenen Jugend und Schülerzeit.
Und der tatenfrohe Heini Stadler? Er war voller Lebensfreude und Sinnenhaftigkeit, er trug aber auch in sich eine Opferbereitschaft, wie sie nur der Jugend, unserer Jugend eigen war. Und in dieser Opferbereitschaft, die wir Heutigen schon ganz vergessen haben, hat er sein kurzes Leben erfüllt. |
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