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Abenteuer in Deutschland

 
     
 
Der Liebhaber rheinhessischer Weine weiß natürlich, wo die Hügel-, Wald- und Weinberglandschaft Rheinhessen liegt, nämlich im Viereck zwischen den Städten Mainz und Worms, Bingen und Alzey. Sollte er sogar wissen, daß die Selz durch Rheinhessen fließt, dann wäre er schon beachtlich regionskundig. Selbst viele Einheimische können die Fragen, wie lang der Fluß ist, wo er mündet, wo seine Quelle entspringt, nicht ohne weiteres beantworten. "Die Quelle? Vermutlich bei Orbis, da so rum", erklärte ein Hilfsbereiter. Übermäßig aufschlußreich war das nicht. "Wo die Selz mündet? Ja, wo könnte sie münden?" grübelte ein anderer. Die Erforschung der Länge des Flusses bereitete ernstliche Schwierigkeiten. "Warum wollen Sie das wissen? Kein Mensch kümmert sich darum. Der Fluß ist so lang, wie er lang ist", eiferte ein Dritter.

Von der Richtigkeit dieser Aussage nahezu erschüttert, machten wir uns auf den Weg ins Quellgebiet der Selz, zur genannten Ortschaft Orbis. Bald stellte sich heraus, daß der geländegängige Wagen unser Vorhaben sehr begünstigte. Gleiches war vom Frühnebel nicht zu behaupten. Zwar sahen die Äcker, über denen zartgraue Nebelfahnen schwebten, recht malerisch aus, Weinberge rückten geisterhaft ins begrenzte Sichtfeld, hier und da tauchten uralte, spitzgiebelige Gebäude auf. Alles malerisch! Aber wir wollten ja nicht malen, sondern eine wenig bekannte Landschaft kennenlernen und eine unbekannte Quelle in Augenschein nehmen. "Wir müssen über Mauchenheim und Morschheim nach Orbis", murmelte Stefanie, die den Wagen steuerte. Ihre Stimme klang, als traute sie sämtlichen Wegverzeichnissen nicht. Doch Mauchenheim tat uns den Gefallen, dem Faltplan entsprechend, näherzurücken. Darüber hinaus lichtete sich der Nebel. Ein blitzblankes Gemeinwesen bot sich dem Blick.

In grauer Vorzeit
soll Mauchenheim von einem fränkischen Siedler namens Maucho gegründet worden sein. Um 1200 existierten in Ortsnähe zwei Zisterzienser-Klöster. Das Männerkloster führte den verheißungsvollen Namen "Paradies", das Frauenkloster hieß "Sion". Zu den Klöstern gehörte die Paradies-Mühle, von der Rudimente erhalten blieben, die sich an einem Fluß, nämlich "an der Selz befinden", las ich Stefanie vor. Folglich mußte die Selz in unmittelbarer Umgebung ihres Wegs fließen. "Schön wär s", seufzte Stefanie. Ihre Aufmerksamkeit galt einer Abfahrt, in die sie einlenkte. Es war die bravourös gefundene Straße nach Morschheim. "Heureka"! Die Reifen quietschten, der Wagen rukkelte. Gewiß waren die Räder schon über ansprechenderen Boden gerollt. Wir zuckelten über einen Steg, unter dem ein schmaler Bach glukkerte.

Abrupt bremste Stefanie. Zwei Seelen, ein Gedanke: wir stiegen aus, entfalteten die umfangreiche "Freizeitkarte Alzey-Worms", begutachteten einen hauchdünnen blauen Strich, der - dem Himmel sei Dank - mit dem Wort "Selz" gekennzeichnet war. Kein Zweifel, wir standen am gesuchten Objekt. Andächtig starrten wir ins Wasser. Zugegeben, der Bach stellte eher ein Bächlein dar. Außerdem war er von krautigen Gräsern, Schilf und allerlei Wildpflanzen fast völlig überwuchert. Aber Wasser führte er. Und das war schließlich entscheidend. "Manche Flüsse fangen eben klein an", meinte Stefanie. Gegen diese Aussage gab es keinen Einwand.

Morschheim war der nächste Ort, den wir planmäßig erreichten. Das verträumte Nest führt im Wappen den heiligen Mauritius, der bekanntlich dunkelhäutig ist. Es veranlaßte die Morschheimer, ihren Ortsnamen mit "Heim des Mor" zu erklären und nicht etwa mit Wörtern negativen Charakters wie "morsch", "brüchig" in Verbindung zu bringen. Sie erhoben den Wappenheiligen in den Rang des Schutzpatrons ihrer frühmittelalterlichen Kirche. Wiederum ohne langwieriges Suchen fanden wir den nach Orbis weiterführenden Weg, denn es gibt nur diesen einen.

Wie durch Zauberhand war der Nebel verschwunden, strahlende Sonne brachte Äcker und Wiesen, Obstbaumreihen und Waldungen zum Glänzen. Beängstigenderweise hatten wir die Selz aus den Augen verloren; ihre struppigen Ufer waren uns über ein langes Streckenstück Orientierungshilfe gewesen. Plötzlich, als wären sie aus dem Boden gestampft worden, schoben sich einzelne helle, eigenartig verlassen wirkende Häuser ins Blickfeld, deren Dächer vom Turm einer Kirche überragt wurden. Das war Orbis. Wir fuhren ein und waren - am Ende der Straße angelangt - auch schon wieder draußen.

Auf einem Feldweg stellten wir den Wagen ab, stiefelten ziellos hin und her, guckten uns ratlos um. Doch von einem Fluß oder Flüßchen war weit und breit nichts zu endecken. "Wir müssen jemanden fragen", schlug Stefanie vor. Richtig, nur wen sollten wir fragen? In dem Dorf mit dem geheimnisvoll anmutenden Namen Orbis, was schlicht "Kreis" bedeutet, aber auch für Loch, Höhle stehen kann, hatten wir keinen Menschen getroffen, nicht einmal einen Hund, eine Katze.

"Wir suchen auf eigene Faust. Irgendwo muß die verdammte Quelle samt Fluß doch stecken", schimpfte Stefanie. Wir stolperten den ausgefahrenen Feldweg entlang. Er führte mitten in Äcker hinein. "Au", stöhnte ich, denn das Gehen in tiefen Furchen will gekonnt sein. Nach einer Weile des Herumirrens packte Stefanie meinen Arm. "Da", flüsterte sie. Ihr Tonfall verriet, daß sie einen neuen Erdteil oder sogar die Selz entdeckt hatte.

So war es. Dort, wo die Äcker zu einer Mulde abfielen, wo Gestrüpp und Farbe vom Wind gezaust wurden, dort floß Wasser. Stumm lauschten wir dem gelinden Rieseln. Wo aber war die Quelle? Das Glück, das vielen Welterforschern an den Fersen hängt, hing auch an unseren. Aus weiter Ferne tuckerte ein Traktor heran, zielgerade auf uns zu. Wir stoben zur Seite. Der Bauer hielt sein Vehikel an, bedachte uns mit Blicken, die auch eine Gänseschar kränken würde. Er raunzte: "Meine Damen, wissen Sie, was ein Feldabfahrweg ist? Jedenfalls ist er kein Parkplatz. So wie Sie Ihren Wagen abgestellt haben, kommt kein Traktor vom Acker runter und keiner rauf. Was, um Himmels willen, suchen Sie hier?"

Zerknirscht, doch wie aus einem Mund, antworteten wir: "Die Selzquelle." Sprachlos starrte er uns an. Eben noch die Grimmigkeit in Person, verwandelte er sich unversehens in einen Engel. "Die Selzquelle. Noch nie fragte einer nach ihr. Sie haben Schwein. Vielleicht bin ich der einzige, der Ihnen sagen kann, wo sie steckt, und der auch weiß, daß es die Selzquelle ist." Er hob den Arm, deutete über die Mulde hinweg. "Auf der Höhe sehen Sie einen Friedhof und in der Senke ein Wäldchen. Da drin finden Sie die Quelle."

Ergriffenes Schweigen allerseits. Dann preschte Stefanie los, drückte sich hinters Steuerrad, machte den Weg für den Traktor frei. Danach marschierten wir ins Wäldchen. Aber was heißt Wäldchen? Ein hölzerner Zaun umfriedete eine Wildnis von hohen Laubbäumen und breit ausladenden Maulbeerbüschen. Unter giftgrünem Blättergewoge verborgen befand sich die von Gemäuer umrahmte Quelle. Steinstufen führten zu ihr hinab. "Wollen wir da runter?" japste Stefanie. Doch ich war schon unten. Über den felsigen Boden sickerte Wasser. Aus einem Röhrchen im Gestein tröpfelte es. Es gibt Schicht-, Stau-, Überlauf- und sonstige Quellen. Dies war offensichtlich eine Tröpfelquelle. Zu Zeiten mochte sie sich zur Sprudelquelle entfalten, denn irgendwie mußte die 63,5 Kilometer lange Selz ja gefüllt werden. Ich setzte den Fuß ins Sickernaß. Augenblicklich schoß Gewürm um den Schuh herum, quirlten Käferscharen. Um das Maß an "Quellenerlebnis" vollzumachen, spie das Röhrchen jählings Wasser. Auf derart heimtückische Weise wird also die hier geborene Selz während ihres Laufs durch Rheinhessen zum Fluß.

Die erwachsen gewordene Selz sahen wir in Alzey. Es ist eine Kleinstadt, in der man bleiben möchte. Grau und wuchtig wächst das Schloß aus dem 11. Jahrhundert aus einem Kranz farbensprühender Fachwerkhäuser. "Volker von Alzey, der Spielmann", einer der Un- glücksvögel aus dem "Nibelungenlied", soll vor Ort musiziert und gezecht haben. Alzeys Beiname "Volkerstadt" ist auf ihn zurückzuführen. Seine Fidel ist im Stadtwappen enthalten, und auf dem einstigen Pferdemarkt steht sein Gaul bei der rebengeschmückten Tränke. Dieser "Roßmarktbrunnen" wurde zu Ehren des legendären Spielmanns 1985 ins Stadtbild gesetzt. Jeder verweilt. Wir jedoch gingen zur Selz. Enten plusterten die Federn im klaren, schnellfließenden Wasser. Alzey blieb es vorbehalten, einen Teil der Selz verschwinden zu lassen. Aus verkehrstechnischen Gründen wurde sie kanalisiert, durchfließt unterirdisch die Stadt und tritt weit draußen wieder ans Tageslicht. Wut- schäumend hastet sie dann in unzähligen Mäandern der Ortschaft Frei-Weinheim zu, in deren Nähe sie ihrem Eigenleben durch Sturz in den Rhein das Ende setzt. Doch bis zu diesem Finale durchquert sie eine herrliche Heimat.

Die Selz bei Mauchenheim. Manche Flüsse fangen eben klein an.
 
     
     
 
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