|
Maurice Philip Remy dürfte spätestens mit seinem von der ARD ausgestrahlten Rommel-Dreiteiler aus dem Schatten Guido Knopps herausgetreten und einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden sein. Passend zur Einweihung des neuen Bernsteinzimmers in Zarskoje Selo macht er nun mit einem eigenen Buch zu diesem Thema seinem früheren Chef Konkurrenz. Von diesem unterscheidet er sich in zwei fundamentalen Punkten. Sein Stil ist sachlicher, nüchterner, weniger sen- sationsheischend. Und er vertritt nicht die These, daß das Bernsteinzimmer noch irgendwo existiere. Von diesen Unterschieden ist Remys Buch geprägt.
Remy hat seine Arbeit weitgehend chronologisch aufgebaut. Den Kern des Werkes bilden die drei Kapitel "Das Kunstwerk", "Der Ortswechsel" und "Die Schatzsuche". "Das Kunstwerk" holt sehr weit aus, doch da der Text interessant geschrieben ist, fällt die epische Breite nicht unangenehm auf. Er beginnt bei der Geschichte des Bernsteins und führt dann erst den Leser über die Geschichte des Bernsteinhandwerkes zum Bern-steinzimmer. Der Reihe nach wird die Geschichte des Zimmers von seiner Entstehung über den Ortswechsel von Preußen nach Rußland bis zum Ausbruch des deutsch-sowjetisch en Krieges am 22. Juni 1941 erzählt.
"Der Ortswechsel" thematisiert die Verbringung des Zimmers nach Königsberg und seinen Aufenthalt im dortigen Schloß. Bemerkenswert ist, daß Remy sich klar von der immer wieder zu hörenden Behauptung absetzt, die Deutschen hätten das Bernsteinzimmer geraubt. So heißt es bei ihm: "Dabei war die Sicherstellung des Bern-steinzimmers offensichtlich im Einklang mit Artikel 56 der so genannten Haager Landkriegsordnung geschehen. ,Jede Beschlagnahmung , so heißt es in dem 1907 auf Initiative von Zar Nikolaus II. in Den Haag ratifizierten und bis heute gültigen Abkommen, ,jede absichtliche Zerstörung oder Beschädigung von derartigen Anlagen, von geschichtlichen Denkmälern oder von Werken der Kunst und Wissenschaft ist untersagt und soll geahndet werden. Die Zarenschlösser lagen von Anfang bis zum Ende der Blockade direkt an oder nahe hinter der Front um Leningrad; ein Belassen vor Ort wäre einer absichtlichen Zerstörung gleichgekommen. Die von Solms und Poensgen durchgeführte Sicherstellung diente ausschließlich der Rettung der Kunstwerke."
Die Geschichte des Bernsteinzimmers bis zu seiner Ausstellung im Königsberger Schloß ist sicherlich interessant, aber doch weitgehend geklärt und abgesehen von Interpretationsfragen wie der obengenannten unumstritten. Die spannende Frage bei jedem Buch oder Film über das Bernsteinzimmer ist, wie der Autor die weitere Geschichte des Bernsteinzimmers darstellt. Das geschieht in Remys Falle überwiegend in dem Kapitel "Die Schatzsuche". Außerdem werden in dem Kapitel die Herstellung des zweiten Bernsteinzimmers und die diversen Versuche der Suche nach dem ersten thematisiert. Während Knopp jede einzelne Spurensuche mit einer Spannung erzählt, als wäre gerade sie die erfolgversprechende, läßt Remy zu keinem Zeitpunkt einen Zweifel darüber, daß es sich in seinen Augen um vergebliche Liebesmühe handele. Nicht ohne Berechtigung heißt es in dem die Funktion eines Vorwortes übernehmenden Kapitel "Spuren": "Dieses Buch beschreibt nicht noch eine Schatzsuche, es präsentiert auch keine neue Theorie über einen Ort, an dem das Bernsteinzimmer versteckt sein soll. Gleichwohl gibt es eine klare Antwort auf die Frage nach dem Schicksal des Kunstwerkes, ohne dabei auf die altherge-brachte dramaturgische Form des Mythos zurückzugreifen - kein Fluch, keine unerklärlichen Morde, kein gleißender Schatz." Die Antwort lautet: Es ist in den Wirren des Krieges verbrannt und damit jeder Entdeckung für alle Zeiten entzogen. M. R.
Maurice Philip Remy: "Mythos Bernsteinzimmer", List, München 2003, geb., zahlreiche farbige Abb., 239 Seiten, 24 Euro |
|