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Guido Knopp weist zu Recht darauf hin, daß „Nemmersdorf ein Fixpunkt der historischen Diskussion“ ist. „Die 1951 vom Bundesministerium für Vertriebene in Auftrag gegebene ,Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa‘“, schreibt er im Begleitbuch zu seinem umstrittenen ZDF-Mehrteiler „Die große Flucht“, „spricht im Zusammenhang mit Nemmersdorf von ,grausamen Exzessen‘, während ,Die Zeit‘ 1992 fast kühl bilanziert: ,Im Verhältnis zur Katastrophe des Sowjetreiches, zu den Dutzenden von Millionen Toten, ist ,Nemmersdorf‘ 1944 ein winziger Punkt im All.‘“
Man stelle sich vor, die „Zeit“ schriebe: „Im Verhältnis zu den Katastrophen Dresdens , Hiroschimas, Nagasakis, Vietnams, Palästinas etc. ist das World Trade Center am 11. September 2001 nur ein winziger Punkt im All.“ Für diese Vorstellung fehlt einem die Phantasie. Eine derart zynische Relativierung ist wohl nur bei deutschen Opfern möglich.
Vor einer Verifizierung von Guido Knopps Darstellung anhand teilweise schon geführter und teilweise noch zu führender Interviews mit Zeugen der Ereignisse in Nemmersdorf sollte eine Betrachtung dessen stehen, was Knopp überhaupt gesagt hat und was nicht. Er stellt nicht in Abrede, daß die erste Konfrontation russischer Kampfverbände mit deutscher Zivilbevölkerung für die Bewohner des Dorfes „Schrecken, Leid und Tod“ brachte. Ausdrücklich wird vielmehr festgestellt, daß sich den deutschen Einheiten, die am 23. Oktober 1944 Nemmersdorf zurückeroberten, „ein grausames Bild“ bot. „Alle, die Nemmersdorf nicht rechtzeitig verlassen hatten“, stellt Guido Knopp fest, „waren brutal ermordet worden.“
Des weiteren schildert Knopp im Indikativ: „Als die Deutschen am nächsten Morgen Nemmersdorf zurückeroberten, fanden sie überall in den Häusern Tote vor. In einem Haus entdeckten sie eine alte Frau auf ihrem Sofa, eine Decke über den Knien. Die Rotarmisten hatten sie mit einem Kopfschuß getötet. Ein älteres Ehepaar hatte versucht, sich hinter einer Tür zu verstecken - vergeblich. Auch sie waren von den eindringenden Rotarmisten erschossen worden. Ein junges Mädchen fanden die Soldaten aufrecht sitzend, gegen eine Wand gelehnt, ihr Kopf war gespalten. An der Brücke über die Angerapp lagen drei weitere Leichen: eine ältere Frau neben einer Mutter mit Kleinkind. Der Schnuller des Kindes lag im Staub der Straße. Die deutschen Soldaten reagierten entsetzt auf die Brutalität, mit der die Rote Armee gewütet hatte.“
Guido Knopp wirft nun dem deutschen Propagandaminister Joseph Goebbels vor, „aus dem Überfall auf Nemmersdorf Kapital“ geschlagen zu haben. In diesem Zusammenhang bringt Knopp das folgende Zitat aus Goebbels’ Tagebuch, welches abermals erkennen läßt, daß es in Nemmersdorf zu russischen Greueln gekommen ist: „Göring ruft mich abends an und teilt mir Einzelheiten über die von den Bolschewisten in den von uns wiedereroberten ostdeutschen Dörfern und Städten angerichteten Greuel mit. Diese Greuel sind in der Tat furchtbar. Ich werde sie zum Anlaß einer großen Presseaufklärung nehmen, damit auch die letzten harmlosen Zeitbetrachter überzeugt werden, was das deutsche Volk zu erwarten hat, wenn der Bolschewismus tatsächlich vom Reich Besitz ergreift.“
Anschließend präsentiert Knopp das folgende „ungenierte Bekenntnis“ des persönlichen Referenten des Ministers, Wilfried von Oven: „Goebbels hat auf die sowjetischen Greuel sehr heftig reagiert und immer wieder Weisungen gegeben, diese in der Öffentlichkeit stärker in den Vordergrund zu rücken. Er hat schließlich auch dazu aufgerufen, die ohne Zweifel geschehenen Greuel noch doller hervorzuheben. In jeder Pressekonferenz wurde darauf hingewiesen, bei der Berichterstattung an Details nicht zu sparen.“
Dieses Zitat ist eigentlich kaum geeignet, Knopps Vorwurf zu untermauern, „Goebbels ,Presseaufklärung‘“ sei „weit entfernt von einer wahrheitsgemäßen Darstellung“ sowie „eine Verzerrung der Fakten und eine schamlose Inszenierung der Geschehnisse“ gewesen.
Das gleiche gilt für die ebenfalls angeführte folgende Aussage von Hanns-Joachim Paris, „der damals als Kriegsberichterstatter vor Ort war“: „Man hatte mit dem Aufräumen gewartet, bis die ausländischen, neutralen Journalisten gekommen waren und alles dokumentiert hatten.“
Von einer konkreten Manipulation ist hingegen in der ebenfalls von Guido Knopp angeführten Aussage von Helmut Hoffmann die Rede, „der das Dorf als einer der ersten Soldaten nach der Rückeroberung betreten hatte“: „So wie sie dalagen, so wie sie fotografiert wurden, so hatte man sie im nachhinein hingelegt. Man hatte ihnen die Kleider hochgezogen und die Schlüpfer heruntergezogen.“
Die Behauptung, daß die Leichen nachträglich positioniert worden seien, ist allerdings nicht neu. So heißt es in der Aussage des Volkssturmmanns Karl Potrek, die in der 1971 in Marburg erschienenen Dokumentation „Stadt und Kreis Gumbinnen“ nachgelesen werden kann: „Diese
Leichen mußten wir auf den Dorffriedhof tragen, wo sie dann liegenblieben, weil eine ausländische Ärzte-Kommission sich zur Besichtigung der Leichen angemeldet hatte. So lagen diese Leichen dann drei Tage, ohne daß diese Kommission erschien. Inzwischen kam eine Krankenschwester aus Insterburg, die in Nemmersdorf beheimatet war und hier ihre Eltern suchte. Unter den Ermordeten fand sie ihre Mutter von 72 Jahren und auch ihren alten Vater von 74, der als einziger Mann zu diesen Toten gehörte. Diese Schwester stellte dann fest, daß alle Toten Nemmersdorfer waren. Am 4. Tag wurden dann die Leichen in zwei Gräbern beigesetzt. Erst am nächsten Tage erschien die Ärzte-Kommission, und die Gräber mußten noch einmal geöffnet werden. Es wurden Scheunentore und Blöcke herbeigeschafft, um die Leichen aufzubahren, damit die Kommission sie untersuchen konnte. Einstimmig wurde dann festgestellt, daß sämtliche Frauen ebenso wie Mädchen von acht bis zwölf Jahren vergewaltigt waren. Auch die alte blinde Frau von 84 Jahren verschonten sie nicht. Nach der Besichtigung durch die Kommission wurden die Leichen endgültig beigesetzt.“ Sollten darüber hinaus tatsächlich entsprechend Helmut Hoffmanns Schilderung „die Kleider hochgezogen und die Schlüpfer heruntergezogen“ worden sein, wäre die Frage zu klären, ob dies geschah, um Vergewaltigungen vorzutäuschen oder um die Spuren durchgeführter Schändungen freizulegen.
Zur Bekräftigung des von ihm suggerierten Verdachtes, daß die Russen „nur“ gemordet hätten, aber nicht vergewaltigt, führt Guido Knopp „Gerda Meczulat, die einzige heute noch lebende Augenzeugin“, an. Detailliert schildert er ihre schreckliche Begegnung mit der Roten Armee: „Gerda Meczulat und ihr Vater, der an diesem Tag 71 Jahre alt wurde, suchten … in einem für die Dorfbewohner am Kanal eingerichteten Unterstand Schutz: in einer großen Tunnelröhre, die mit Stroh ausgelegt und an den Seiten mit Bänken versehen worden war. Zwölf weitere Menschen flüchteten sich wie sie dorthin, darunter auch vier Kinder. Während die Dorfbewohner im Bunker um ihr Leben bangten, entbrannte über ihnen ein unnachgiebiger und verlustreicher Stellungskampf. … Während einer der Gefechtspausen wagte es Vater Meczulat, den Unterstand noch einmal zu verlassen, um in sein Haus zurückzukehren: ,Es war unheimlich still draußen, kein Schußwechsel war mehr zu hören‘, erzählt Gerda Meczulat. ,Mein Vater sagte: ,Ich gehe jetzt und koche uns Kaffee.‘ Wir hatten noch nicht einmal gefrühstückt und er brauchte ja nur die Straße zu überqueren. Nach einer ganzen Weile kam er tatsächlich mit frischem Kaffee und Schnitten wieder und sagte: ,Das Dorf ist voller Russen.‘“ Die Sowjets hatten den alten Mann nach Waffen durchsucht und wieder laufen lassen. Immer noch hofften die Menschen in der Tunnelröhre, mit heiler Haut davonzukommen. Als am späten Nachmittag die deutsche Luftwaffe einen schweren Angriff flog, waren die Rotarmisten selbst gezwungen, Schutz zu suchen - und drangen schließlich in den Bunker ein. Die Sowjets ließen die überraschten Dorfbewohner zunächst unbehelligt. Einige spielten sogar mit den anwesenden Kindern. Erst gegen Abend kam es zu einem verhängnisvollen Zwischenfall: Im Bunker erschien ein höherer Offizier und begann mit den Soldaten eine heftige Auseinandersetzung. Schließlich befahl er den Zivilisten, den Unterstand zu verlassen. Gerda Meczulat erinnert sich an die schrecklichsten Minuten ihres Lebens: ,Der Offizier blieb vorne am Eingang stehen. Und dann hieß es immer: ,Paschol, paschol!‘ Als wir heraustraten, stand der ganze Abhang zu beiden Seiten des Ausgangs voller Russen - mit Maschinenpistolen. Ich hörte Schüsse und dann nur noch das Röcheln der Erschossenen.‘ Gerda Meczulat, die seit ihrem siebten Lebensjahr an Kinderlähmung leidet, verließ den Unterstand als Letzte. Dabei stolperte sie und fiel. Nun trat der russische Offizier von hinten an sie heran, legte die Pistole an ihren Kopf und schoß. Die Kugel zerfetzte ihren Kiefer und trat über dem Jochbein wieder aus. Wie durch ein Wunder überlebte die junge Frau - als Einzige.“
Wenn Guido Knopp auch den von Gerda Meczulat geschilderten systematischen Massenmord nicht ansatzweise bezweifelt, so legt er doch Wert auf die Feststellung, daß Gerda Meczulat nichts zu berichten wisse, was Helmut Hoffmanns Behauptung widerspreche. Vielmehr hätten die Russen sich, „bis der Offizier den Befehl zum Erschießen gab, ganz ruhig verhalten. Zu Belästigungen oder gar Vergewaltigungen sei es nicht gekommen.“ Allerdings ist der von Knopp suggerierte Analogieschluß nicht ungewagt, daß, weil bei dem von Gerda Meczulat erlebten Massenmord die Opfer vorher nicht vergewaltigt worden sind, auch die anderen - laut Knopps Zahlen 13 - von Russen ermordeten Nemmersdorfer unbelästigt geblieben seien.
Doch nicht nur die Berichte über Vergewaltigungen zieht Guido Knopp zumindest in Zweifel. Die Worte des bereits erwähnten Kriegsberichterstatters Hanns-Joachim Paris („Ein grauenhaftes Bild: Junge Mädchen und Frauen waren nackt an die Scheunentore genagelt worden. Es war grausam und wirklich kaum vorstellbar“), dem Knopp durchaus Glauben schenkt, wenn es darum geht, Goebbels zu belasten, vermögen Knopp ebensowenig zu überzeugen wie die Schilderung, die der Volkssturmmann Karl Potrek in der „Dokumentation der Vertreibung“ zu Protokoll gab: Er habe sechs unbekleidete, an Scheunentore genagelte Frauen gesehen, und in den Wohnungen seien insgesamt 72 Frauen und Kinder tot aufgefunden worden.
„Vor dem Hintergrund der Tatsache, daß die ,Dokumentation der Vertreibung‘ ihre Entstehung politischer Initiative“ verdanke „und das Ministerium für Vertriebene nach Meinung des Historikers Matthias Beer ,entsprechend der Zahl in einem Bericht enthaltener Fälle wie etwa Mord, Totschlag oder Vergewaltigung honorierte‘“, sei, so Knopp, „auch bei Potreks Aussage Vorsicht geboten.“
Ob angesichts des heutigen, von politischer Korrektheit geprägten Zeitgeistes bei aktuellen Darstellungen weniger Vorsicht geboten sein sollte, sei dahingestellt. Jedenfalls machen die Verantwortlichen der Sendereihe „Die große Flucht“ kein Hehl daraus, daß „das dringliche Anliegen“ der Reihe „Versöhnung“ sei, und dieses Ziel ist zweifelsohne kein wissenschaftliches, sondern ein politisches.
Auf jeden Fall ist Guido Knopp kaum zu widersprechen, wenn er schreibt: „Mord - aber keine Vergewaltigung? Angesichts 26 unschuldiger Opfer eines brutalen Verbrechens scheint diese Frage absurd.“ Und ihm ist beizupflichten, wenn er ferner feststellt: „Die Rote Armee hat beim Überschreiten der deutschen Grenze in Ostdeutschland und anderswo schreckliche Verbrechen gegen wehrlose Zivilisten begangen … das Massaker blieb kein Einzelfall, es war nur Auftakt einer Reihe schrecklicher Exzesse sowjetischer Soldateska gegen die deutsche Zivilbevöl- kerung.“ Die Frage, warum nun gerade in Nemmersdorf der Kanon der von der Roten Armee an der Zivilbevölkerung begangenen Kriegsverbrechen ein kleinerer gewesen sein soll als im übrigen Ostdeutschland, bleibt un- erörtert.
PS: Prof. Dr. Werner Maser, Historiker und gebürtiger Ostpreuße, betonte im Gespräch mit dem „“, zwar habe er Guido Knopp in den letzten Jahren heftig kritisiert, könne ihm aber jetzt bescheinigen, trotz einiger anfechtbarer Details - zum Beispiel im Zusammenhang mit Nemmersdorf - insgesamt eine „saubere Arbeit“ abgeliefert zu haben. Adressat der ZDF-Serie und des Begleitbuchs seien nicht die Vertriebenen selbst, sondern die vielen - vor allem jungen - Menschen, die hier erstmals über die an Deutschen begangenen Verbrechen informiert wurden.
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