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Mit dem Wohnwagen nach Masuren

 
     
 
Schon lange reifte in mir, einem 38jährigen Münsteraner, der Gedanke, einmal Ostdeutschland zu bereisen, genauer gesagt in die Heimat meiner Mutter, meiner Großeltern zu reisen. Schon lange dachte ich mir: Eine Reise nach Masuren ist eine Reise in das neue/alte Europa. Für viele Menschen in der Bundesrepublik Deutschland und auch Westeuropa ist der Blick gen Osten immer noch ein Tabu. In den Köpfen der Menschen ist der Eiserne Vorhang noch lange nicht verschwunden. Einige hat es aus unterschiedlichen Gründen in die osteuropäischen Länder gezogen: aus Neugier, aus beruflicher Notwendigkeit oder aus der Hoffnung heraus auf wirtschaftliche Profite. Doch ist der Osten für viele Menschen nicht gerade ein Synonym für Urlaub, sondern eher für Sowjetunion, Kommunismus, heruntergekommene Städte, schlechte Versorgungslage, dunkle Lebensumstände sowie sicherlich auch Diebstahl
, Brutalität, "Russenmafia" und unbekannte Gefahren.

Für uns, meine Freundin Claudia und mich, waren all diese Vorurteile kein Hindernis, im letzten Jahr unsere Reise nach Ostdeutschland zu starten. Nach dem Motto "Bangemachen gilt nicht" haben wir unseren Wohnwagen beladen und ein paar Reiseführer unter den Arm geklemmt und sind Anfang August frühmorgens aufgebrochen in Richtung Osten.

Unsere Reisevorbereitungen waren recht dürftig gewesen, und so versuchten wir, noch Kontaktadressen auf unserer Route in Erfahrung zu bringen. Für mich war es dabei naheliegend, mich noch einmal mit meiner Mutter über ihre Heimat zu unterhalten.

Meine Mutter ist 1942 in Derz, Kreis Allenstein geboren. Dieser Ort liegt etwa 1.100 Kilometer in östlicher Richtung von Münster entfernt. So fängt man an, auf die Landkarten zu schauen. Ich suchte nach alten Karten, denn man muß nun doch noch einmal überlegen, wie die Grenzen des Deutschen Reiches vor dem Zweiten Weltkrieg aussahen. Und da entdeckt man, daß Ostdeutschland ein Teil des Deutschen Reiches war, genauso wie Bayern, Hessen, Niedersachsen oder Schleswig-Holstein. Und dort ist die Heimat meiner Großeltern und Verwandten.

Unsere Fahrt, mit dem vollbeladenen Wohnwagen hinter dem Pkw und den zwei Fahrrädern auf dem Gepäckträger, geht zunächst in Richtung Berlin. Wir überqueren die ehemalige innerdeutsche Grenze bei Magdeburg und fahren an unserer Hauptstadt vorbei in Richtung Frankfurt an der Oder. Wir haben Glück, denn die Überfahrt über die Oder ist seit zwei Tagen wieder freigegeben, und die Zollabfertigung erfolgt wider Erwarten schnell. Mit einigen polnischen Zlotys bestückt, geht unsere Fahrt Richtung Warschau, vorbei an der fünf Kilometer langen Lkw-Schlange, welche an der Grenze warten muß.

Es dauert eine Weile, bis wir uns an die neuen Straßenverhältnisse gewöhnt haben. Diese Strecke ist wohl die polnische Hauptverkehrsader und sehr stark von Lastkraftwagen frequentiert. Man merkt, daß diese Straßen nicht für solche Verkehrsströme ausgelegt sind, denn die Fahrbahn birgt tiefe Spurrillen, welche bei Regen voller Wasser stehen und das Fahren selbst bei trockener Straße stark erschweren. Trotz allem sind sie doch so gut, daß wir schneller als die erlaubte Höchstgeschwindigkeit fahren und auch prompt geblitzt werden. Diese Polizeistreife ist tatsächlich unser erster Kontakt mit der polnischen Bevölkerung.

Bis kurz hinter Posen schaffen wir es noch bis zur Abenddämmerung und suchen uns dort einen Campingplatz. Am nächsten Tag geht es Richtung Norden bis zur Weichsel, an deren Ufer das mittelalterlich anmutende Thorn liegt, eine der vielen alten Städte, die im Mittelalter (1231) vom Deutschen Orden gegründet wurden. Thorn ist die Stadt, in der Nikolaus Kopernikus gelebt und im wahrsten Sinne die Welt auf den Kopf gestellt hat. Im 15. Jahrhundert behauptete er tatsächlich entgegen der Meinung von Staat und Kirche, daß die Erde nicht das Zentrum des Universums sei. Seine Meinung konnte sich allerdings erst nach den Forschungen von Galilei und Kepler gegen die alte Lehre durchsetzen, und noch heute spricht man vom kopernikanischen Weltsystem.

Entlang der Weichsel geht unsere Reise dann gen Norden. Auf dem Weg an unzähligen Ritterburgen vorbei, die einst das Bollwerk gegen die heidnischen Litauer bildeten. Am Abend erreichen wir die Marienburg, die größte Burganlage Europas, den einstigen Hauptsitz des Hochmeisters des Deutschen Ordens. Und so gehörte eine Besichtigung der Burg natürlich zu unserem Pflichtprogramm. Sehr anschaulich wird hier die Geschichte des Ordens, der deutschen Kolonisation und auch der einstigen Bevölkerung, der Prussen, aufgezeigt.

Unser weiterer Weg führt uns durch das Weichseldelta in die alte Hansestadt Danzig. Phantastisch von der polnischen Bevölkerung restauriert, erstrahlt die Stadt in altem Glanz. Die ganze Innenstadt läßt den Reichtum der hanseatischen Kaufleute erahnen, die hier ihre Häuser bauten. Die Stadt lebt, und viele junge Menschen prägen das Stadtbild. Stimmungsvolle Restaurants, Cafés und Kneipen laden zum Genießen ein.

Von hier aus führt unser Weg östlich zurück über die Weichsel an der alten Hafenstadt Elbing vorbei, immer auf die Stadt Allenstein zu. Hier wird uns deutlich, warum Ostdeutschland Land der dunklen Wälder und kristallenen Seen genannt wird. Allenstein war vor 1945 Regierungssitz in diesem Bezirk und eine der größten Städte des Bistums Ermland, des einzigen katholischen Gebietes in ganz Ostdeutschland. Heute ist die Stadt Anlaufpunkt für die Deutsche Minderheit im südlichen Teil Ostdeutschlands, eine Institution, welche nach der Wende von 1990 öffentlich erlaubt wurde. Während der kommunistischen Zeit durfte nirgendwo erwähnt werden, daß dieses Gebiet jemals zu Deutschland gehört hat. Die noch dort lebende deutsche Volksgruppe wurde gezwungen, die polnische Staatsbürgerschaft anzunehmen.

Die Tage in dieser Region lassen einen spüren, daß die Zeit hier stehengeblieben ist. Ostdeutschland ist sehr landwirtschaftlich geprägt - Wälder, Felder, Seen, Natur pur. Was wird die Zukunft dieser Region und den Menschen hier bringen? Die Republik Polen ist ein aufstrebender Staat und ab dem 1. Mai dieses Jahres Mitglied in der EU. Die slawische Mentalität erinnert uns an die Südländer, wie wir sie aus Italien oder Spanien kennen. Die ostdeutschen Landstriche sind für Polen sicherlich landwirtschaftlich wertvoll. Viele Fragen gehen uns durch den Kopf: Kommt es in Zukunft zu Holzraubbau? Wird man die kristallenen Seen erhalten können? Oder wird auch hier Industrie angesiedelt? Wie weit wird die Ostseeküste industriell interessant für Polen? Nicht nur Danzig, auch Elbing, Pillau und Königsberg waren zu früheren Zeiten florierende Handels- und Hafenstädte.

Doch zurück zu unserer Reise. In Allenstein angekommen, führt unser Weg einige Kilometer weiter in den Ort Bischofsburg. Dort können wir unseren Wohnwagen bei den Freunden meiner Eltern parken, um von dort aus Kurztrips in die nähere Umgebung zu starten. Meine Gedanken schweifen in die Vergangenheit, als der Opa noch vor ein paar Jahren erzählt hat von seinem Hof und seinen Pferden, von der schönen alten Zeit in Ostdeutschland, wenn im Sommer dort die Verwandten aus dem Ruhrgebiet zu Besuch kamen. Wie wohl alles geworden wäre, wenn meine Mutter in ihrem Geburtsort Derz, diesem kleinen verschlafenen Örtchen zwischen Allenstein und Bischofsburg, ihr Leben aufgebaut hätte?

Doch wieder zur Wirklichkeit. Ein weiterer Höhepunkt im Ermland, dem katholischen Landesteil Ostdeutschlands, ist der Wallfahrtsort "Heiligelinde". Die barocke Kirche wird dort von der Abendsonne herrlich angestrahlt, als wir sie erreichen. Zwischen all den vielen Backsteinkirchen entlang der Ostsee ist man gar verblüfft, hier solch eine eher süddeutsch anmutende Kirche zu entdecken. Wir haben noch die Gelegenheit, an einem Gottesdienst teilzunehmen, und genießen anschließend den Sonnenuntergang von dieser Anhöhe.

Auch von hier aus führt unser Weg wieder vorbei an alten Burgen des Deutschen Ordens wie zum Beispiel die Burg Rößel. Doch dann gelangen wir zu einer Burganlage unserer Zeit, einer Festung ungeahnten Ausmaßes. Was mag das sein? Die Wolfsschanze in Rastenburg, das sogenannte Führerhauptquartier. Hitler ließ es während des Zweiten Weltkrieges unter strengster Geheimhaltung bauen. Viele Geschichten ranken sich um diesen Standort.

Am Abend gibt es im Landhaus unserer Bekannten noch ein Fest, bei dem wir Freuden und Leiden des polnischen Wodkas zur Genüge kennenlernen. Einen Tag darauf ver-abschieden wir uns von Allenstein, und es geht weiter in Richtung Nordosten. Unsere Reise führt durch die masurische Seenlandschaft. Kristallene Gewässer, bei denen man den Eindruck hat, man könnte bis auf den Grund schauen, kleine Ferienorte, Fischerboote, Bootsanlegestellen, kurzum eine idyllische Atmosphäre.

Doch wir kommen langsam in Randgebiete des südlichen Ostdeutschland und immer dichter an die Grenze zum Königsberger Gebiet. Der Weg entlang der Ostsee führt eigentlich mitten durch dieses Gebiet, doch wir fahren östlich durch den Ort Suwalki zur litauischen Grenze und lassen das Königsberger Gebiet links liegen. Eine kurzes Stück Staatsgrenze bildet hier die Verbindung zwischen Polen und Litauen, bis sich im Süden die Grenze zu Weißrußland anschließt. Wir überqueren die Grenze problemlos und fühlen uns nun doch ein wenig sicherer in Litauen, da man den Menschen hier mehr Deutschfreundlichkeit zuschreibt und die Litauer sich angeblich nicht so oft Autos von anderen "ausleihen" ... Uns fällt auf, daß die Campingplätze im Baltikum nur noch rar gesät sind. Und somit muß unsere Reiseroute jetzt genauer ausgefeilt werden. Doch auch in Kaunas, der einstigen Hauptstadt Litauens, war der gekennzeichnete Campingplatz nicht zu finden. So waren wir froh, daß wir noch eine Kontaktadresse zwischen Kaunas und Wilna hatten. Spät in der Nacht treffen wir in dem kleinen Ort Morkunai ein. Ein Freund von uns aus Herford hat hier vor ein paar Jahren mit seinem Vater eine Autowerkstatt aufgebaut. Umgebaute Viehstallungen einer ehemaligen Kolchose dienen als Werkstatt. Wasser gibt es noch gar nicht, und ohne Heizung wird es im Winter sehr kalt. Doch der Autohandel scheint zu blühen, und schon lange sieht man hier deutsche Autos auf den Straßen. Audi an erster Stelle, gefolgt von VW und Opel. Schrottautos will man auch hier nicht fahren, und somit sind die Menschen auch bereit, einige tausend Euro für ein solides Auto zu investieren. Von hier aus unternehmen wir Abstecher in die wichtigsten Städte Litauens: Wilna und Kaunas. Nach einer kurzen Zeit hier auf dem Land geht es endlich an den Ostseestrand. Schnurstracks gen Westen entlang des Flusses Memel führt eine der wenigen Autobahnen auf den Ort Memel zu.

Von hier aus kann man zur Kurischen Nehrung übersetzen. Kilometerlange Dünenstrände laden dort zu Badeurlaub und zum Träumen ein.

Unser Weg führt heraus aus der Industrie- und Hafenstadt Memel, und wir fahren einige Kilometer weiter Richtung Norden zum Badeort Polangen. Hier verweilen wir ein paar Tage und lassen es uns gut gehen. Die weiten weißen Sandstrände geben wirklich das Bild von "richtig" Urlaub, und im Örtchen Polangen spielen jeden Abend die Live-Bands in den Biergärten.

Noch ein paar Tage genießen wir den Ostseestrand, bevor es dann wieder auf die Heimreise nach Münster geht. Beeindruckende Bilder und viele neue Erfahrungen bleiben uns im Gedächtnis. Das "Abenteuerland" im Osten wird uns bestimmt nicht das letzte Mal gesehen haben.

Frühstück auf dem Campingplatz: Die Fahrräder für die bevorstehende Exkursion stehen schon bereit. Fotos (2): Röhr

Vor der Burg Rößel: Der Autor und seine Freundin Claudia

 
     
     
 
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