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Der Zeitgeist erobert die Kanzeln

 
     
 
Sie wolle vor allem auch die "Interessen der Minderheiten" verteidigen, kündigte Bärbel Wartenberg-Potter, neue Bischöfin der Nordelbischen Kirche in ihrer Antrittspredigt an. Vorsichtshalber gab sie nicht zu erkennen, ob sie ihre eigene Kirche auch schon zu diesen Minderheiten rechnet. Denn bei einem jährlichen Schwund von rund 5000 Seelen sind die Protestanten in Deutschlands Norden auf dem besten (oder schlechtesten) Wege, zur Minderheit zu werden.

Immerhin aber gab die Lübecker Bischöfin wenigstens indirekt zu erkennen, wo man nach den Gründen zu suchen hat, derentwegen die Gläubigen ihren Kirchen – insbesondere den protestantische
n – in Scharen davonlaufen. In dem dreistündigen Gottesdienst zur Amtseinführung strapazierte sie die Kirchenbesucher im Lübecker Dom mit einer "politischen" Predigt.

Daß der mit diesem "christlichen" Termin betraute Berichterstatter des "Hamburger Abendblattes" ausgerechnet Ulf B. Christen heißt, mag Zufall sein. Daß er im Verlauf der bischöflichen Predigt aber einen "roten Faden" aufspürte, können wir kaum noch für Zufall halten. Die neue Bischöfin machte unmißverständlich klar, wo sie ideologisch und politisch steht. Da war die Rede von "sozialem Gewissen", aber ein Unterschied zwischen "sozial" und "sozialistisch" war nicht auszumachen.

Und weiter: Statt "Leitkultur" brauche die heutige Gesellschaft die "Vision einer echten Alternativkultur". Die Kirche als "Motor für eine bessere Welt", als Streiterin für eine "gerechtere Gesellschaft" – das klingt doch alles sehr bekannt. Als "Kampfansage an den Zeitgeist" wollte Frau Wartenberg-Potter ihre Polit-Predigt verstanden wissen, in Wirklichkeit war es Unterwerfung unter den politisch korrekten Zeitgeist.

Schleswig-Holsteins Ministerpräsidentin Heide Simonis ist zuzustimmen, wenn sie das "Dilemma eines politischen Christentums" so beschreibt: Ist die Kirche "dicht an der Zeit", kann sie die Menschen abschrecken, bleibt sie zu weit weg, interessiert sich keiner mehr für sie. "Dicht an der Zeit", das muß aber doch nicht zwangsläufig dazu führen, daß auf den Kanzeln nur noch politisierende Pfarrer die Gläubigen "aufrütteln", "schockieren", ihnen Angst machen (zum Beispiel vor Atomkraft oder vor "rechter Gewalt"). Die Menschen, soweit sie für die christlichen Kirchen überhaupt noch erreichbar sind, erwarten wohl doch eher Orientierung, Lebenshilfe, Trost und innerliche Erbauung. Um es banal auszudrücken: Es würde nicht schaden, wenn in der Predigt gelegentlich auch noch der "liebe Gott" vorkommen würde.

Joachim Gauck, Pfarrer und früherer Bundesbeauftragter für die Stasi-Akten, hat kürzlich den "Betroffenheitskult" seiner evangelischen Kirche kritisiert. Die "Kultur des Verdrusses und der Betroffenheit" sei zu einer "protestantischen Subkultur" geworden, die "zu einer Ablehnung der freien Menschen" führe. Es sei eine "geistig-moralische Verirrung", wenn in protestantischen Gottesdiensten stets versucht werde, die letzten Dinge in politische Forderungen umzusetzen.

Gauck weiter: "Total frustriert und betroffen müssen wir uns nicht wundern, wenn die Menschen lieber zu Borussia Dortmund gehen, wo sie Spaß und Freude erleben." Er forderte "mutige Distanz zum Zeitgeist" und eine "größere Nähe zum biblischen Menschen". Kirchenleitungen wie die der Nordelbischen Kirche lassen – entgegen ihren eigenen Worten – genau diese Distanz vermissen. Und darum brauchen sie sich nicht zu wundern, wenn ihre Bischöfin irgendwann vor völlig leeren Kirchenbänken predigt.

 
     
     
 
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